Darüber spricht man nicht …

Warum eigentlich? Es gibt jede Menge Tabu-Themen in unserer Gesellschaft. Manche durchaus nachvollziehbare. Wer will schon wissen, was andere hinter verschlossener Tür in ihrem Schlafzimmer so anstellen, dass ist wirklich Privatsache. Aber auch über Einkommen, Gesundheit oder altersbedingte Veränderungen wird gerne der Mantel des Schweigens ausgebreitet.

Ich nehme heute zwei dieser Themen und setze sie noch dazu in Verbindung zueinander. Also, Borderline-Syndrom und Klimakterium (oder umgangssprachlich auch „Wechsel“ genannt, also jene Phase des Lebens, in der Frauen starke hormonelle Veränderungen durchleben). Nachdem ich heuer definitiv in der zweiten Hälfte meines Lebens angekommen bin – mit 50 gibt’s daran rein rechnerisch keinen Zweifel – erlebe ich nunmehr beides sehr intensiv.

Der Drache im Bild soll meine liebevoll humoristischen Betrachtungen unterstreichen.

Also nochmal, Borderline und Klimakterium. Für mich fühlt sich das an wie „16 forever“, nur dass ich mich statt mit Pickeln im Gesicht mit ergrauender Haarpracht (wofür es – der Chemie sei Dank – funktionierende Lösungen gibt) herumschlage. Der Push up-Bra dient nicht mehr dazu den Eindruck von „mehr“ zu erwecken, sondern die Auswirkungen der Gravitation auf den Körper zu verschleiern. Ein kleiner Flirt fühlt sich immer noch toll an, nur sollten die Männer dafür wie früher 10 Jahre älter als ich, sondern eher 10 Jahre jünger sein, damit das Ego des Drachen gestreichelt wird. Aber darüber hinaus unterscheiden sie die beiden Lebensphasen deutlich weniger als ich erwartet hatte. Emotional ähnle ich häufig mehr einer Teenagerin als einer gereiften Person.

In meinen Ohren klingen noch die Worte einer Psychotherapeutin, die vor einigen Jahren zu mir gesagt hat: Borderline wächst sich im Laufe der Zeit aus. Ha! Vielleicht bei anderen. Definitiv nicht bei mir.

Überbordende Gefühle, mangelnde Impulskontrolle, extreme Empfindlichkeit … alles noch vorhanden. Eines stimmt schon: ich habe gelernt, damit besser umzugehen, schneller und effektiver gegenzusteuern um verheerende Auswirkungen wie in meiner Jugend zu vermeiden, aber weg ist da gar nichts. Genau genommen finde das sogar gut. Meine Lebenserfahrung hilft mir, mit all dem gut zu Recht zu kommen. Zu „all dem“ gehört auch, insbesondere die positiven Emotionen bewusst intensiv zu erleben, auf allen Ebenen … und damit deute ich etwas an, dass ich jetzt nicht in dieser Form ausspreche, sonst würde ich damit an einem Thema kratzen, das ich mir für später aufheben möchte.

Ehrlich, mit 16 konnte ich mir nicht annähernd vorstellen, was in der „Drachenzeit“ so alles möglich ist. Aber vielleicht liegt es auch am Borderline? Oder an beiden in Kombination?

Ich genieße es, mich auch mit 50 manchmal wie 16 zu fühlen. Oder 25. Vielleicht auch 30, aber keinen Tag älter als 35. Bitte richtig verstehen: ich habe keinen Jugendwahn. Ich will NICHT noch einmal 16 sein und den ganzen Stress des „sich im Leben seinen Platz finden“ durchlaufen. Es passt schon so, wie es ist. Dennoch – es ist verdammt cool, dieses Gefühl des „alles ist möglich“ und „die Welt wartet nur auf mich“ immer noch erleben zu können. Sich einfach mal so in eine Fantasie fallen lassen zu können. Zu träumen. Zu hoffen. Nochmal von vorne anzufangen (so wie ich gerade als Autorin). Die ganze (destruktive) Energie meines Borderline in einen (konstruktiven) Prozess zu stecken – einfach so. Weil ich es kann. Weil ich bin, wer ich bin.

Ich stehe am Beginn meines zweiten Lebens. Ich werde keine Kinder (zumindest keine biologischen) mehr in die Welt setzen. Vielleicht eine Menge geistiger Kinder (Bücher)? Vielleicht sogar zu Themen, über die man nicht spricht? Pfeif drauf. Geschwiegen habe ich lange genug. Ich glaube, es würde uns allen guttun, würden wir manches offen ansprechen und ins Licht der Wahrnehmung holen, was sich sonst in der Dunkelheit der Verdrängung aufstaut und irgendwann unkontrolliert ausbricht. Wie ein Vulkan. Oder ein Drache, dem man zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. Drachen brauchen nämlich viele Streicheleinheiten, dann können sie ganz anschmiegsam sein.

Ich kann heute über alles reden und schreiben. Mein halbes Leben liegt hinter mir. Was auch immer noch vor mir liegt – ich freue mich darauf.

Warum?

In den letzten Monaten wurde ich – vor allem bei Lesungen und anderen Gelegenheiten – öfters gefragt, warum ich das Thema Borderline öffentlich anspreche? Es ist ja nicht so, als würde ich erzählen, ich habe eine Grippe erwischt. Ich spreche offen über Gefühle, Ängste, Schwächen – und ja, in gewisser Weise werde ich dadurch berührbar und verletzbar. Noch dazu in den sozialen Medien, in denen man schnell Ziel eines Shitstorms werden kann; in denen zumeist Oberflächlichkeit den Ton angibt und Tiefgründigkeit eher eine Randerscheinung ist; in denen Likes wichtiger sind als aufrichtiges Interesse; in denen laut Statistiken einem Beitrag nur wenige Sekunden Beachtung gewidmet werden schreibe ich viele Zeilen, deren Botschaft sich erst beim aufmerksamen Lesen entfaltet.

Warum also mache ich es? Warum gehe ich dieses Risiko ein? Warum wende ich die Energie hierfür auf?

In dem ich das Thema für andere aufbereite und das Unbegreifliche in Worte zu fassen versuche, fokussiere ich mich sehr stark auf mich selbst, um meine Wahrnehmungen und Gefühle in allen Nuancen zu reflektieren. Dadurch zentriere ich mich stärker als je zuvor in meinem Leben. Ich verbinde (deshalb: RE/CONNECTED) mich quasi mit mir selbst, bin also das Gegenteil von dem, was ich früher war: (teil)entkoppelt von mir selbst und meinem Gefühlsleben (DIS/CONNECTED). Für mich als Mensch ist das heilsam und fast schon therapeutisch.

Verliere ich diesen Fokus, dann ist es, als würde alles in mir durcheinandergeraten. Ich verliere mich innerhalb und auch meine Abgrenzung nach außen. Dann werde ich zu einer Art Stimmgabel, die mit jeglicher Schwingung aus dem Umfeld in Resonanz geht. Mit positiven Stimmungen ist das durchaus erwünscht, aber mal ehrlich: in wessen Leben überwiegt die schon? Ohne Fokus genügt eine morgendliche Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln, um den Rest des Tages (und weit darüber hinaus) von bedrückenden Gefühlen und düstere Gedanken begleitet zu werden. Ohne Fokus wird aus einer Absage schnell eine Ablehnung, Ausgrenzung, Zurückweisung, Bestätigung dessen, was ich bin … oder früher dachte, dass ich bin. Ich denke, ich muss es an dieser Stelle die destruktiven Gedankengänge nicht weiter ausführen. Die Welt durch die Brille der Dunkelheit wahrzunehmen trübt den Blick auf die tatsächlichen Fakten und erschafft eine negative Bewertung. Was folgt, ist eine Art von Blindheit gegenüber den positiven Dingen und Menschen, die für mich da sind.

Ich bin nicht einzigartig. Ganz im Gegenteil! Ich glaube, nein, ich bin überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die ähnliches erleben. Mein Leben lang habe ich mich unverstanden gefühlt, nie irgendwo angekommen, nirgends zugehörig. Sicher, wie alle anderen auch, war ich in der Schule, in Sportmannschaften, in Arbeitsgruppen und Teams. Ich war zwar dabei, aber irgendwie auch nicht. Bis heute habe ich zuweilen das Gefühl, ein „Alien“ unter Menschen zu sein – auch wenn ich mich heute darüber amüsiere und meinen Frieden damit geschlossen habe, zu sein was ich bin.  Meine Gedanken und Wahrnehmungen unterscheiden sich von denen der meisten Menschen, die ich kenne. Das habe ich schon als Kind festgestellt. Weil die seltsamen Reaktionen aus dem Umfeld darauf unangenehm bis schmerzhaft waren, habe ich aufgehört, anderen meine „Welt“ zu zeigen und stattdessen begonnen, Theater zu spielen … über Jahrzehnte hinweg.

Wenn ich also heute über meine Gedanken und Gefühle schreibe und jemand – vielleicht sogar Du? – liest diese Zeilen und denkt sich: „Hey, die tickt ja genauso wie ich. Ich bin also nicht allein damit.“ … dann sind wir schon zwei. Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch habe ich mich nach jemanden gesehnt, der mich versteht, mit dem ich meine Gedanken teilen kann, ohne ausgelacht oder abgelehnt zu werden. Vielleicht kann ich dieser „Jemand“ heute für Dich sein?

Vor einigen Wochen hat mein Sohn diese Zeilen an mich gerichtet: „Warum? Warum hast du so gehandelt, wie du gehandelt hast? Warum hast du es nicht geschafft, den Borderline-Instinkt des Verheimlichens auch nur für einen Augenblick zu überwinden und mir zu sagen, dass du es verstehst?“ Obwohl ich die Antwort darauf kannte, war es doch schwer, sie zu akzeptieren und zu formulieren. Offenheit bedeutet Verletzlichkeit. Verstandesmäßig hatte ich vieles verdrängt, doch gefühlsmäßig spürte ich immer, dass da etwas in mir war, etwas Unverstandenes, etwas Unerwünschtes. Aus Angst vor neuerlicher Ablehnung verbarg ich mein wahres Wesen und begann zu leiden und zog die Menschen rund um mich in meinen Schmerz hinein.

Ablehnung schmerzt – auch heute noch – doch dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, sich selbst über Jahrzehnte zu verleugnen und zu verraten.

Warum ich über mein Leben als Borderlinerin schreibe?

Weil ich heute die Kraft habe, Ablehnung auszuhalten, denn ich liebe mich, so wie ich bin, mit wirklich allen Facetten! Weil ich hoffe, dass meine Erfahrungen für andere hilfreich sein werden. Weil ich meinen Teil dazu beitragen will, das gängigen Vorurteile und Zuschreibungen zum Thema Borderline zu verändern. Weil ich mir von ganzem Herzen wünsche, dass es irgendwann möglich sein wird, Gedanken und Gefühle in dieser Welt offen auszusprechen und dafür echte Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu bekommen… eben ein Happy End. Ich steh drauf, echt 😉

Mein erster Blogbeitrag…

… soll ein Gedicht sein, welches ich 1996 verfasst habe. Du findest es auf der ersten Seite meiner Autobiographie und es öffnet auch hier an dieser Stelle das Tor zu meiner Gedanken und Gefühlen … das Tor in meine Welt.

Wenn die Sonne den Horizont berührt

Wenn die Sonne den Horizont berührt,
wenn ihr Licht hinab in das Dunkel der Meere taucht,
wenn der Schatten der Nacht die Welt verhüllt,
wenn mein Blick sich nach innen richtet,
dann geht meine Seele auf Reisen,
meine Gedanken weit fort –
und sie bleiben doch nur bei mir.
Was ich auch sehe,
ich sehe es in mir.
Was ich auch fühle,
es lebt in mir.
Wohin ich auch gehe,
ich bleibe immer bei mir.
Meine Seele liegt vor Euch wie ein offenes Buch,
jedes Wort ein Spiegel,
jede Zeile ein Bild,
ein Weg zu mir,
ein Labyrinth,
scheinbar einfach,
und doch verworren.
Doch wer diesen Weg geht,
der wird mich finden,
irgendwo,
im Labyrinth,
irgendwann,
wenn die Sonne den Horizont berührt.