Es braucht immer zwei …

Heute werde ich ein wenig über die Ereignisse der vergangenen sieben Tage reflektieren.

Zum einen war ich in einigen Borderline-Foren und Selbsthilfegruppen aktiv unterwegs um einen Eindruck zu gewinnen, wie andere mit ihrer Borderline-Thematik umgehen. Ich traf dabei auf viel Bekanntes. Leider auch auf die weit verbreitete Überzeugung, die „Anderen“ würden Borderline-Betroffenen überwiegend mit Unverständnis, Ablehnung und Ausgrenzung begegnen.

Zum anderen war ich am Wochenende auf einer Frauen-Messe und habe die Gelegenheit genutzt, Kontakte zu knüpfen und vor allem Menschen auf das Thema Borderline anzusprechen. Quasi Feldforschung zu betreiben. Wieder einmal hat sich dabei bestätigt, dass die meisten kaum etwas darüber wissen – von den klassischen Klischees und Zuschreibungen abgesehen. Auf Ablehnung traf ich persönlich nicht, eher auf Erstaunen (weil ich den Klischees nicht entspreche?) und auf Interesse (weil ich den Klischees nicht entspreche!)

Beide Erfahrungen betrachtend habe ich mich an ein Ereignis vom Jahresanfang erinnert. Damals führte ich ein Telefonat mit einer Kollegin, das außer Kontrolle geriet. Sie verstand mich nicht und ich sie nicht. Klassisches Kommunikationsproblem. Leider eines, dass mich getriggert und dadurch einen aggressiven Abwehrmechanismus in mir gestartet hat. Es gelang mir gerade noch, mit einer wenig höflichen Aussage im Sinne von „Kein guter Zeitpunkt zum Reden. Ich melde mich wieder“ das Gespräch abrupt zu beenden und aufzulegen. Ich brauchte einige Stunden, um aus dem emotionalen Karussell wieder auszusteigen. Danach wollte ich den Vorfall nicht am Telefon besprechen, sondern habe ein paar Tage gewartet, bis ich diese Kollegin persönlich traf. Sie war wenig erfreut, mich zu sehen. Man könnte auch sagen: sie war angepisst. In ihren Augen war meine Handlungsweise äußerst unkollegial, rüde, abweisend …

Ich erklärte ihr den Hintergrund, dass ich Borderlinerin sei und schlichtweg in einem Verhaltungsmuster festgesteckt bin. Das Gespräch zu beenden bevor mein Verhaltungsmuster die Eskalationsspirale weiter nach oben schrauben konnte, war aus meiner Sicht die beste Option. Aus Unverständnis wurde Verständnis, aus einem Konflikt die Basis für Kooperation. Das Wundermittel? Kommunikation. Wir arbeiten nach wie vor zusammen und besser als je zuvor.

Vorfälle wie dieser bestärken mich auf meinem Weg, offen mit meinem Thema Borderline umzugehen. Hier sei in aller Deutlichkeit gesagt: dies ist MEIN Weg. Ich empfehle jedem, selbst zu entscheiden, ob und in wie weit jeder einzelne darüber offen sprechen möchte. Dafür gibt es keine allgemein gültige Idealformel.

Ich spreche und schreibe offen über mein Borderline-Syndrom. Lange Jahre tat ich das nicht, weil ich dachte, ich würde damit als schwach oder unfähig wahrgenommen werden. Ich bin keins von beiden. Ich bin verletzlich, und wollte diese Verletzlichkeit nicht preisgeben – aus Angst vor Unverständnis, Ablehnung und Ausgrenzung. Daher verstehe ich den Rückzug hinter den Mantel des Schweigens nur allzu gut.

Dennoch ist es mir wichtig zu zeigen, dass sich die Gesellschaft nicht so einfach in zwei Lager aufspalten lässt: Auf der einen Seite Borderliner (oder Menschen mit anderen „belächelten“ Krankheiten) und auf der anderen Seite „die Anderen“, die nicht verstehen, ablehnen und ausgrenzen.

So einfach ist es nicht.

Die Welt – inklusive unserer Gesellschaft – besteht nicht aus schwarz/weiß, sondern aus unendlichen vielen Facetten von grau. Oder unendlich vielen Farben. Ich bevorzuge die bunte Variante. In dieser bunten Vielfalt ist jeder von uns ein Individuum. Keine zwei sind völlig gleich in ihrer Persönlichkeit und ihrem Verhalten. Oder ihrem Umgang mit Krankheit, ihren Beziehungsvorstellungen, Konfliktstrategien … Der gemeinsamer Nenner, der uns alle inmitten dieser Vielfalt verbindet, sind urmenschliche Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Normalerweise vermeide ich Verallgemeinerungen, doch dieser einen stimme ich aus tiefster Überzeugung zu.

Es gibt noch etwas, dass ich wage zu verallgemeinern: Wann immer zwei (Menschen oder Gruppen) einander mit Offenheit und ehrlichem Interesse begegnen, lösen sich Unverständnis, Ablehnung und Ausgrenzung von ganz alleine auf. Durch Kommunikation und Kooperation entsteht ein Miteinander. Aber dafür braucht es immer zwei, die aufeinander zugehen und damit beginnen, zu vertrauen.

Warum?

In den letzten Monaten wurde ich – vor allem bei Lesungen und anderen Gelegenheiten – öfters gefragt, warum ich das Thema Borderline öffentlich anspreche? Es ist ja nicht so, als würde ich erzählen, ich habe eine Grippe erwischt. Ich spreche offen über Gefühle, Ängste, Schwächen – und ja, in gewisser Weise werde ich dadurch berührbar und verletzbar. Noch dazu in den sozialen Medien, in denen man schnell Ziel eines Shitstorms werden kann; in denen zumeist Oberflächlichkeit den Ton angibt und Tiefgründigkeit eher eine Randerscheinung ist; in denen Likes wichtiger sind als aufrichtiges Interesse; in denen laut Statistiken einem Beitrag nur wenige Sekunden Beachtung gewidmet werden schreibe ich viele Zeilen, deren Botschaft sich erst beim aufmerksamen Lesen entfaltet.

Warum also mache ich es? Warum gehe ich dieses Risiko ein? Warum wende ich die Energie hierfür auf?

In dem ich das Thema für andere aufbereite und das Unbegreifliche in Worte zu fassen versuche, fokussiere ich mich sehr stark auf mich selbst, um meine Wahrnehmungen und Gefühle in allen Nuancen zu reflektieren. Dadurch zentriere ich mich stärker als je zuvor in meinem Leben. Ich verbinde (deshalb: RE/CONNECTED) mich quasi mit mir selbst, bin also das Gegenteil von dem, was ich früher war: (teil)entkoppelt von mir selbst und meinem Gefühlsleben (DIS/CONNECTED). Für mich als Mensch ist das heilsam und fast schon therapeutisch.

Verliere ich diesen Fokus, dann ist es, als würde alles in mir durcheinandergeraten. Ich verliere mich innerhalb und auch meine Abgrenzung nach außen. Dann werde ich zu einer Art Stimmgabel, die mit jeglicher Schwingung aus dem Umfeld in Resonanz geht. Mit positiven Stimmungen ist das durchaus erwünscht, aber mal ehrlich: in wessen Leben überwiegt die schon? Ohne Fokus genügt eine morgendliche Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln, um den Rest des Tages (und weit darüber hinaus) von bedrückenden Gefühlen und düstere Gedanken begleitet zu werden. Ohne Fokus wird aus einer Absage schnell eine Ablehnung, Ausgrenzung, Zurückweisung, Bestätigung dessen, was ich bin … oder früher dachte, dass ich bin. Ich denke, ich muss es an dieser Stelle die destruktiven Gedankengänge nicht weiter ausführen. Die Welt durch die Brille der Dunkelheit wahrzunehmen trübt den Blick auf die tatsächlichen Fakten und erschafft eine negative Bewertung. Was folgt, ist eine Art von Blindheit gegenüber den positiven Dingen und Menschen, die für mich da sind.

Ich bin nicht einzigartig. Ganz im Gegenteil! Ich glaube, nein, ich bin überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die ähnliches erleben. Mein Leben lang habe ich mich unverstanden gefühlt, nie irgendwo angekommen, nirgends zugehörig. Sicher, wie alle anderen auch, war ich in der Schule, in Sportmannschaften, in Arbeitsgruppen und Teams. Ich war zwar dabei, aber irgendwie auch nicht. Bis heute habe ich zuweilen das Gefühl, ein „Alien“ unter Menschen zu sein – auch wenn ich mich heute darüber amüsiere und meinen Frieden damit geschlossen habe, zu sein was ich bin.  Meine Gedanken und Wahrnehmungen unterscheiden sich von denen der meisten Menschen, die ich kenne. Das habe ich schon als Kind festgestellt. Weil die seltsamen Reaktionen aus dem Umfeld darauf unangenehm bis schmerzhaft waren, habe ich aufgehört, anderen meine „Welt“ zu zeigen und stattdessen begonnen, Theater zu spielen … über Jahrzehnte hinweg.

Wenn ich also heute über meine Gedanken und Gefühle schreibe und jemand – vielleicht sogar Du? – liest diese Zeilen und denkt sich: „Hey, die tickt ja genauso wie ich. Ich bin also nicht allein damit.“ … dann sind wir schon zwei. Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch habe ich mich nach jemanden gesehnt, der mich versteht, mit dem ich meine Gedanken teilen kann, ohne ausgelacht oder abgelehnt zu werden. Vielleicht kann ich dieser „Jemand“ heute für Dich sein?

Vor einigen Wochen hat mein Sohn diese Zeilen an mich gerichtet: „Warum? Warum hast du so gehandelt, wie du gehandelt hast? Warum hast du es nicht geschafft, den Borderline-Instinkt des Verheimlichens auch nur für einen Augenblick zu überwinden und mir zu sagen, dass du es verstehst?“ Obwohl ich die Antwort darauf kannte, war es doch schwer, sie zu akzeptieren und zu formulieren. Offenheit bedeutet Verletzlichkeit. Verstandesmäßig hatte ich vieles verdrängt, doch gefühlsmäßig spürte ich immer, dass da etwas in mir war, etwas Unverstandenes, etwas Unerwünschtes. Aus Angst vor neuerlicher Ablehnung verbarg ich mein wahres Wesen und begann zu leiden und zog die Menschen rund um mich in meinen Schmerz hinein.

Ablehnung schmerzt – auch heute noch – doch dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, sich selbst über Jahrzehnte zu verleugnen und zu verraten.

Warum ich über mein Leben als Borderlinerin schreibe?

Weil ich heute die Kraft habe, Ablehnung auszuhalten, denn ich liebe mich, so wie ich bin, mit wirklich allen Facetten! Weil ich hoffe, dass meine Erfahrungen für andere hilfreich sein werden. Weil ich meinen Teil dazu beitragen will, das gängigen Vorurteile und Zuschreibungen zum Thema Borderline zu verändern. Weil ich mir von ganzem Herzen wünsche, dass es irgendwann möglich sein wird, Gedanken und Gefühle in dieser Welt offen auszusprechen und dafür echte Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu bekommen… eben ein Happy End. Ich steh drauf, echt 😉