Diese Frage habe ich mir schon vor vielen Jahren gestellt. Mein Verstand sagte damals natürlich: JA – eh klar, auch wenn ich es für mich selbst nicht fühlen konnte, aber der Verstand stimmte zu.
Dann kam die Diagnose Borderline. Glücklich trotz „psychischer Erkrankung“? Auch diese Frage kann ich heute offen und aufrichtig mit JA beantworten. Manchmal sogar mit einem Unterton in der Art von „jetzt erst Recht.“
Diese Antworten gibt allerdings mein Verstand. Mein Gefühl stimmt zwar ebenfalls zu, dennoch kehrt es von Zeit zu Zeit zurück in die Vergangenheit, als es anders war. Wie vermutlich der überwiegende Teil der Menschen kann auch ich nicht vollständig jene Konditionierungen ausblenden, die mich im Laufe meiner frühen Kindheit geprägt haben. Leider waren es keine Unterweisungen im Glücklich-sein, die ich damals erhielt, und die mich bis heute noch ab und an in längst vergangene (wenig erfreuliche) Gefühlszustände zurückholen wollen.
Erklären lässt sich das mit Verstrickungen im familiären System. Oder Loyalität zu (zumeist) den Eltern, in dem man das Leid und den Schmerz, das sie erfuhren und durchlebten, selbst stets aufs Neue im eigenen Leben wiederholt. Ich habe mich jahrelang mit den Theorien und Modellen dazu befasst. Mehr als einmal dachte ich mir dabei: Wenn das alles stimmt, wie kannst du aus dem Kreislauf je rauskommen?
Nun, ich habe meinen individuellen Weg gefunden. Wenn die „Geister der Vergangenheit“ mich in längst obsolete Emotionen zurückziehen wollen, halte ich dagegen. Nicht mit rationalen Argumenten, die würde mein innerer Skeptiker zerpflücken wie ein Gänseblümchen … du glaubst doch nicht, dass du glücklich sein darfst … ich weiß, dass du es nicht kannst … du weißt auch, dass du es nicht kannst …
Nein, ich gehe subtiler vor. Trickse meinen Kritiker aus, indem ich eine Geschichte erzähle und meine Botschaft in eine Metapher verpacke. So wie diese – die übrigens in meinem nächsten „Buch EMBRACE – Fühle die Umarmung des Lebens“ zu finden sein wird. Viel Spaß mit dieser kurzen Geschichte über „Glück“ und wie ich mir selbst erlaubte, glücklich sein zu dürfen:
Ein (un)glücklicher Zufall
Es war einmal eine junge Mutter, die mit ihrer Familie im ersten Stock auf der hintersten Stiege einer schon etwas renovierungsbedürftigen Wohnhausanlage wohnte. Unterhalb residierte – wohl schon seit Fertigstellung der Anlage – eine ältere und äußerst redselige Dame. Meistens beeilte sich die junge Mutter, durchs Stiegenhaus hindurch und an der Tür ihrer Nachbarin vorbei zu gelangen, ohne von ihr entdeckt zu werden. Sie hatte viel zu tun, schleppte häufig schwere Einkaufstaschen mit sich, ein kleines Kind an ihrer Hand – für ausgiebigen Nachbarschaftstratsch blieb ihr wenig Zeit. Nicht so an diesem Tag. Man könnte sagen, sie bummelte regelrecht über die grauen Betonstufen der Treppe, aus dem Augenwinkel die Tür der Nachbarin beobachtend, in der Hoffnung, diese würde sich öffnen.
Und tatsächlich geschah das Ersehnte. Als hätte sie die Gedanken der Mutter gehört, stand plötzlich die alte Nachbarin in der offenen Tür. Ein langes Leben mochte ihr Gesicht mit Falten gezeichnet haben, doch ihre Augen strahlten wie die eines jungen Mädchens, dass der Welt mit Neugier und ausgebreiteten Armen begegnete. Ganz im Gegensatz zu der jungen Mutter, die mit gesenktem Kopf und sorgenvollem Blick durchs Treppenhaus geschlichen war. Die Alte erkannte sofort die Sorgen, die wie ein unsichtbarer Rucksack voller Steine auf dem Rücken der Mutter lasteten, und bat diese auf eine Tasse Tee zu sich.
Die Wohnung der Alten war ein Panoptikum ihres Lebens. Voller verstaubter Bücher, Krimskrams aus aller Herren Länder, Erinnerungen aus Jahrzehnten. Kaum eine horizontale Fläche war frei geblieben. Selbst das Sofa bot ernst nach einigen Handgriffen des Umräumens Platz, um sich darauf zu setzen. Bodenlange Vorhänge dämpften das wenige Licht, das an den dicht belaubten Bäumen vor dem Fenster vorbei von außen herandringen konnte. Obwohl all das die junge Mutter mehr an eine Höhle denn an ein Wohnzimmer erinnerte, verspürte sie an diesem Ort doch eine Art von Wohlbehagen und Geborgenheit. Vielleicht war es die Zuversicht, welche ihre alte Nachbarin verströmte, und die ihr selbst meistens fehlte.
Nachdem die junge Frau sich einen Sitzplatz auf dem Sofa mit dem dunkelgrünen Samtbezug geschaffen hatte, begann sie auch schon zu erzählen, von ihren Sorgen und allem, was sie in diesem Augenblick belastete. Beziehungsprobleme, Kindererziehung, Job, Gesundheit, Geld, Sicherheit … kaum ein Thema des Lebens blieb außen vor. Sie sprach lange, während die Alte aufmerksam ihren Worten lauschte, ab und an einen Ratschlag unterbreitete, auf welchen die junge Mutter unmittelbar erklärte, dass sie dies bereits versucht hatte und dabei gescheitert war. Schlussendlich stellte sie resignierend fest: „Ich habe schon alles probiert, aber es ist zu viel für mich allein, und niemand ist bereit mir zu helfen. Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“
Es war nicht zu übersehen, wie unglücklich sie mit ihrem Leben war. Die Alte seufzte tief, schüttelte ihren Kopf und meinte dann: „Ich mache uns jetzt erstmal eine gute Tasse Tee.“
Sie ging Richtung Küche, setzte einen Kessel Wasser auf und kam dann zurück ins Wohnzimmer. Beiläufig begann sie, die Bücherstapel auf dem Wohnzimmertisch umzuschlichten und Platz für die Teetassen zu schaffen. Dabei landete ein Buch direkt im Blickfeld der jungen Mutter, dass sofort deren Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Umschlag war schon etwas ausgeblichen und an den Kanten eingerissen, dennoch griff sie danach. Nachdenklich blätterte sie durch die Seiten. Der alten Nachbarin entging das natürlich nicht. Auch wenn sie mitunter schusselig wirkte, sie war äußerst gewieft, und dieses Buch vielleicht nicht ganz zufällig im Blickfeld ihres ratsuchenden Gastes gelandet. Als sie den nach exotischen Gewürzen duftenden Tee brachte, legte die junge Mutter das Buch wieder zur Seite.
Während die Alte ausführlich über die Besonderheit dieses Tees aus Zimt, Kardamom und etlichen anderen Zutaten sprach, sowie über seine sehr spezielle Zubereitung erzählte, blinzelte die junge Mutter immer wieder zu dem Buch, das neben ihr auf dem Sofa lag. Nach einer Weile wurde sie gefragt, ob sie das Buch gerne ausleihen und in Ruhe darin lesen möchte. Dieses Angebot nahm sie dankend an, und so kehrten sie an diesem Tag zwar nicht mit weniger Sorgen, aber mit einem Buch in der Hand in ihre Wohnung in den ersten Stock zurück.
An diesem Abend fand die junge Mutter etwas Zeit für sich, zog sich in eine ruhige Ecke zurück und begann, in dem Buch zu lesen. Bereits nach wenigen Seiten entdeckte sie ein zusammengefaltetes Stück Papier zwischen den Seiten. Die Neugier erfasste sie, und so öffnete sie den Zettel. Auf dem etwas vergilbten, karierten Blatt stand in altmodischer Handschrift und königsblauer Tinte:
„An diesem Tag änderte sich alles. Ich hatte den Schlüssel zum Glück gefunden. Es war gar nicht so schwer, wie ich immer geglaubt hatte, aber auch ganz anders, als ich vermutet hatte. Hätte ich das schon früher gewusst, was hätte ich alles anders gemacht. An diesem Tag begann mein neues Leben, mein glückliches Leben. Alles, was ich brauche, um glücklich zu sein, ist“
An dieser Stelle endete der Text unten rechts auf der Seite. Hastig drehte sie das Blatt um, doch die Rückseite war leer. Zwischen den Buchseiten fand sie auch keinen weiteren Zettel. Gebannt starrte sie auf die wenigen Worte, die genau das versprachen, was sie so verzweifelt suchte, und nicht verrieten, wie es zu erreichen war. Wo war bloß die fehlende Information? Die musste sie haben, unbedingt!
Aufgewühlt von den zufällig gefundenen Worten kam sie in dieser Nacht nicht zur Ruhe. War das möglich? Gab es einen Schlüssel zum Glück? Wie gerne wäre sie wieder glücklich in ihrem Leben. Sie musste herausfinden, was es damit auf sich hatte – so rasch als möglich. Am liebsten sofort, doch es war mitten in der Nacht. Bis zum nächsten Morgen würde sie sich also gedulden müssen.
Tags darauf klopfte sie aus freien Stücken an der Tür ihrer Nachbarin, erzählte von dem Fund, und dass sie mehr darüber wissen wollte. Die Alte lächelte, schilderte einige unwesentliche Details, wie sie in den Besitz des Buches gekommen war und wie es zu der Botschaft auf dem Zettel kam. Es schien, als wollte sie das Geheimnis nicht verraten. Also drängte die junge Mutter: „Bitte, ich muss es wissen.“
„Nun, du musst einfach den Satz ergänzen“, antwortete sie schließlich, „Alles, was ich brauche, um glücklich zu sein, ist … ergänze diesen Satz. Schreib auf, was du brauchst, damit du glücklich wirst.“
Stirnrunzelnd warf sie ihrer alten Nachbarin einen skeptischen Blick zu. DAS war alles? Mehr brauchte es nicht? Ihre Zweifel waren offensichtlich, denn die Alte fügte hinzu:
„Wenn du das getan hast, bring mir den Zettel und ich erkläre dir den Rest.“
Die junge Mutter kehrte wiederum in ihre Wohnung zurück, nahm ein Blatt Papier zur Hand und begann zu schreiben. Anfangs wollten sich keine Worte finden, doch je länger sie daran saß, umso zügiger ging es voran. Zeile und Zeile füllte sich mit all ihren Wünschen, die erfüllt sein mussten, damit sie endlich wieder glücklich sein konnte. Bald schon reichte ein Blatt nicht aus, ein zweites folgte und noch eines.
Schließlich stand sie mit acht dicht beschriebenen Seiten in ihrer Hand vor der Tür ihrer Nachbarin. Diese bat sie erneut zu sich ins Wohnzimmer, servierte eine Tasse nach Zimt duftenden Tee und widmete sich den Notizen. Bereits nach wenigen Augenblick ergriff sie einen Leuchtstift und markierte einzelne Passagen. Verwundert, aber schweigend verfolgte die junge Mutter das Geschehen. Sie wartete gebannt, bis die Alte die Zettel fein säuberlich nebeneinander auf den Tisch legte. Deutlich sichtbar war eine Vielzahl an breiten Markierungsstreifen in Pink.
„Das ist all das, was für dein Glück NICHT verantwortlich ist“, sagte sie nüchtern und nippte an ihrer Teetasse. Die junge Mutter ergriff die Zettel und starrte auf Pink, sehr viel Pink, viel zu viel Pink nach ihrem Empfinden. Offensichtlich verwirrt zuckte sie mit den Schultern, schüttelte den Kopf und ihr Blick war ein unausgesprochener Wunsch nach Erklärung dieser Markierungen.
„Ich habe all das rausgestrichen, wo du von anderen etwas erwartest, wo jemand anders etwas tun soll oder sich ändern soll, damit du glücklich wirst. So funktioniert nicht das nicht. Dein Glück kann und darf nicht davon abhängig sein, was jemand anders ist oder tut. Du darfst niemanden außer dir selbst die Verantwortung dafür geben. Außerdem habe ich all das rausgestrichen, wo du erklärst, was fehlt und was nicht sein soll, denn machst du dein Glück von etwas abhängig, dass du erst bekommen musst oder wieder verlieren kannst, wird es stets wankelmütig sein.“
Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille, dann sagte die Junge mit ratlosem Tonfall in ihrer Stimme: „Aber was soll ich dann aufschreiben?“
Die Alte lächelte und erwiderte: „Schreib das auf, was du selbst dafür tun kannst, was sein soll und was bereits da ist.“
Nach einer kurzen Pause folgte ein zweifelnder Einwand der Mutter: „Aber wenn so viele Punkte wegfallen, dann werde ich auch weniger glücklich werden am Ende, als wenn alle erfüllt sind.“
Auf diesen Kommentar hin begann die ältere Dame herzlich zu lachen und verschüttete dabei etwas Tee. Den verständnislosen Blick ihres Gastes quittierte sie mit einer pragmatischen Aussage: „Mit dem Glück ist das wie mit einer Schwangerschaft. Entweder bist du schwanger oder nicht. Es gibt kein mehr oder weniger schwanger. Zufriedenheit kann variieren, aber Glück nicht. Entweder bist du glücklich oder du bist es nicht.“
„Aber darf ich denn überhaupt glücklich sein? Ich meine, gerade gibt’s viele Schwierigkeiten rundum, Probleme zu lösen. Ich kann doch nicht so tun, als wäre das alles unwichtig?“ hakte die junge Mutter ein, deren Gedanken zurück drifteten in ihre Kindheit, in der auch immer irgendetwas da war, das sie bedrückte.
„Du sollst keinesfalls die Realität ignorieren. Die ist, wie sie ist. Denkst du, die Probleme lassen sich leichter lösen, wenn du unglücklich bist?“
Sie sagte es zwar nicht, aber in diesem Augenblick erinnerte sich die junge Mutter an ihre häufig getätigte Aussage, dass zuerst dies oder jenes Problem verschwunden sein müsste, damit sie zur Ruhe kommen konnte. Wäre es möglich, nicht alles gemeistert zu haben UND trotzdem glücklich zu sein? Glücklich sein zu dürfen? Die Kühnheit dieser Gedanken ließ ihr junges Herz schneller schlagen, doch ihr kritischer Verstand wehrte sich dagegen, denn es widersprach all dem, was sie in der Vergangenheit gelernt hatte. Daher setzte sie erneut zu einem Einwand an:
„Aber …“
„Kein aber mehr! Mach es einfach und komm mit dem Ergebnis wieder.“
Am zweiten Abend zog sich die junge Mutter erneut zurück in die ruhige Ecke, nur diesmal wollten sich die Worte noch zäher finden als beim ersten Mal. Was sie selbst tun konnte? Das war gar nicht so einfach zu erkennen. Viel leichter fiel es ihr zu erläutern, was die anderen für sie tun sollten und was sie in ihrem Alltag vermisste. Was bereits da war? Gewiss, es gab so einiges in ihrem Leben, das sie als selbstverständlich hinnahm und nicht auf die Idee kam, dass dies ein Teil ihres Glücks sein konnte. Über all das Fehlende zu klagen brachte ihre Worte zum Sprudeln. Das Bestehende anzuerkennen und das Mögliche zu benennen waren schlichtweg ungewohnt. Erst nach und nach fügte sich Zeile um Zeile auf das Blatt Papier. Kurz vor Mitternacht waren es dann doch mehr als drei Seiten geworden.
Müde fiel die junge Frau ins Bett. In dieser Nacht geschah etwas, unbemerkt, während sie schlief. Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie eine unerklärliche Ruhe in sich. Nachdem sie ihre Familie versorgt hatte, stand sie mit ihren Zetteln vor der Tür der Nachbarin und zögerte, anzuklopfen. Schließlich tat sich es doch und saß kurze Zeit später auf dem dunkelgrünen Sofa in dem schummrigen Wohnzimmer, während die Alte die Zeilen las, ab und zu anerkennend nickte und schmunzelte. Am Ende angekommen, richtete sie eine Frage an ihren Gast:
„Und wie fühlst du dich jetzt?“
Die junge Frau antwortete nicht, sie lächelte nur – und das sagte mehr als tausend Worte. An diesem Morgen strahlten ihre Augen vor Lebendigkeit, obwohl sie wenig geschlafen hatte. Ihr Gesicht spiegelte Zufriedenheit, ihr Körper Gelassenheit. Sie wirkte insgesamt … glücklich?
„Dein Schlusssatz gefällt mir besonders: Alles, was ich brauche, um glücklich zu sein, ist bereits da, in diesem Augenblick, hier und jetzt. Alles, was ich brauche, um glücklich zu sein, bin ich selbst. Es braucht keinen Grund, ich bin es einfach.“
Von diesem Tag an änderte sich nicht sofort das Leben der jungen Mutter, aber sie übernahm die Verantwortung für ihr Glück. Das bemerkten bald die Menschen in ihrem Umfeld, die wiederum anders auf sie reagierten. Ehe sie es sich versah, hatte sich vieles verändert, darunter auch einiges von dem, das sie zuvor als Bedingung für ihr Glück angesehen hatte. All dies geschah aufgrund ihres Entschlusses, glücklich zu sein – grundlos!
War es ein glücklicher Zufall, dass sie im tiefsten Unglück hinter jener Tür der Nachbarin Rat suchte? Das ein paar gekritzelte Worte auf einem ausgeblichenen Zettel den Weg wiesen? Oder ein Unglück, dass sie so lange auf Umwegen etwas suchte, das längst schon da war? Was ist Unglück? Was ist Glück? Erschaffen wir nicht beides selbst durch die Art und Weise, wie wir auf unser Leben blicken und was wir uns selbst zugestehen?