BILDER IM KOPF

Jeder Mensch hat individuelle Bilder im Kopf. Vorstellungen, was richtig/falsch, gut/schlecht ist. Was andere (möglicherweise) denken, was sie motiviert. Etliche dieser Bilder lassen sich unter dem Begriff „Vorurteile“ zusammenfassen. Männer sind … Frauen sind … Borderliner sind …

Es braucht nicht viel, um abgestempelt zu werden als ….

Vor kurzem bin ich auch mit „Bildern im Kopf“ zu Borderline konfrontiert worden – aber auch mit dem ehrlichen Interesse, diese zu hinterfragen und abzugleichen. Eine echte Wohltat, Menschen zu treffen, die über den Tellerrand der Vorurteile hinausblicken auf das, was es ist.

Eines dieser Vorurteile lautet: „Borderliner sind eine Gefahr für andere und sich selbst“. Sind sie das wirklich? Oder präziser gefragt: Sind Borderliner gefährlicher für sich selbst und andere als Nicht-Borderliner? Wer richtet mehr Schaden in dieser Welt an? Bei Borderlinern kann Selbstverletzung vorkommen, aber wie viel (Selbst)Verletzung findet durch Nicht-Betroffene statt? Bislang habe ich keine Studie gefunden, die sich diesem Vergleich widmet, aber ich traf auf eine Menge Vorurteile der Ablehnung, Ausgrenzung, Stigmatisierung ….

Ich liebe es, Vorurteile zu hinterfragen.

Oder neue Perspektiven zu eröffnen, so wie diese:

Ich bin Borderlinerin. Mein emotionales Gleichgewicht ist nur bedingt „von allein stabil“, weshalb ich mir über die Jahre eine tägliche Routine der Psychohygiene angewöhnt habe um Schwankungen auszugleichen und mein inneres Gleichgewicht bewusst herzustellen. Mindestens eine Stunde pro Tag (in der Bahn, beim Waldspaziergang oder auch auf der Couch) widme ich mich dem Reflektieren meiner Erlebnisse in einer Art „Achtsamkeits-Meditation“. Was ist geschehen? Wie hat es auf mich gewirkt? Was habe ich gefühlt? Wie habe ich reagiert? Wie hat das wiederum aufs Umfeld gewirkt? Was will ich künftig anders machen?

Wie viele Nicht-Betroffene reflektieren täglich ihr Verhalten und dessen Auswirkungen?

Achtsamen Umgang mit anderen und sich selbst erlebe ich im Alltag eher selten. Wenn ich daran denke, wie häufig ich in Öffis angerempelt werde (obwohl ich nicht zu übersehen bin mit über 1,80 m), neige ich dazu, Achtsamkeit unter „ferner liefen“ abzulegen. Auch all die verletzenden Worte und geringschätzigen Blicke rundum … Respekt und Höflichkeit sind offenbar ebenso aus der Mode gekommen wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. 

Wie wäre der Alltag in einer achtsamen Gesellschaft, in der jeder Mensch sich täglich eine Stunde der Reflexion und Psychohygiene widmet? Eine kühne Spekulation von mir: Rücksichtlosigkeit wäre die Randerscheinung unter „ferner liefen“.

Oder im Sinne von „Henne oder Ei“ gedacht: Wie verbreitet wäre Borderline in einer achtsamen Gesellschaft, in der achtsame Menschen darauf achten, nicht übergriffig zu werden oder andere zu traumatisieren? Oder sie allein lassen mit Ereignissen, die sie nicht verarbeiten können? Wer sind die Täter? Wer die Opfer?

Rotieren die Bilder im Kopf?

Jeder, der schon mal mit Vorurteilen konfrontiert war, weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, vorverurteilt zu werden und wie mühsam es ist, daran etwas zu ändern. Viele Jahre meines Lebens fühlte ich mich fehlerhaft, defekt, kaputt … dieses Gefühl hat eine Menge Schaden angerichtet. Ich frage mich, was alles hätte vermieden werden können ohne dieses Defekt-Gefühl? Wie viel schneller und einfacher wäre mein Heilungsprozess verlaufen? Hilfreich war es sicherlich nicht, vom Umfeld vermittelt zu bekommen „du bist fehlerhaft“.

Aber so sind sie, die Bilder im Kopf, omnipräsent und nur selten hinterfragt. Ebenso wie all die Informationen, mit denen wir tagtäglich über diverse (soziale) Medien berieselt werden und aus denen unsere Bilder im Kopf entstehen. Wie viel davon ist wahr? Was Fake? Ist die Welt wirklich jener Ort des Schreckens, die Menschheit ohne Zukunft, oder findet sich rund um das Faktenkorn eine Menge Fake-Spreu?

Fakt ist, dass negative Gedanken und Gefühle sich negativ auf die physische und psychische Gesundheit eines Menschen auswirken. Wir werden davon langfristig krank und sterben früher. Einen Menschen laufend mit dem Vorurteil „du bist fehlerhaft“ abzustempeln sollte – meiner Ansicht nach – ebenso wie Körperverletzung behandelt werden, denn es ist per se Seelenverletzung. Leider sind Narben auf der Seele weniger sichtbar als Narben an den Unterarmen. Über letztere verfüge ich nicht, weshalb ich auch schon mal skeptische Blicke ernte im Sinne von „Du bist wirklich Borderlinerin – ohne Narben?“ Wieder so ein Bild im Kopf. Tatsächlich gibt es weniger Borderliner, die sich selbst Schnittverletzungen zufügen als solche, die es nicht tun. Dieses Bild ist allerdings weniger weit verbreitet.

Die Fake-Spreu lässt sich mit gezieltem Hinterfragen und konsequenter Achtsamkeit vom Faktenkorn trennen. Mit ihr verschwinden dann auch einige Bilder im Kopf, entsteht Raum für neue Bilder, können Vorurteile durch Erfahrungswerte ersetzt werden. Natürlich ist das ein bewusster Prozess, anders als unbewusstes Reagieren anhand unreflektierter Bilder.

Aber wie bei allem im Leben, führt auch Übung zum Erfolg und zur Meisterschaft. Für mich sind meine täglichen Achtsamkeitsmeditationen ein integrierter Bestandteil meines Lebens, ein Automatismus, Routine. Ich komme gar nicht auf die Idee, einen Tag mal NICHT zu reflektieren. Vielleicht bin ich keine typische Borderlinerin, aber auch das ist nur ein Bild im Kopf.

Bild: pixabay.com

SICH DEM SCHMERZ STELLEN

Tagelang habe ich überlegt, ob ich diesen Blog schreiben soll oder nicht. Was hier später folgen wird, ist definitiv schwer verdauliche Kost, aber gleichzeitig wichtig für meinen Heilungsprozess – und vielleicht ein Impuls zur Aufarbeitung für jene, die ähnliches erlebt haben. Es nur für mich selbst niederzuschreiben oder im therapeutischen Kontext zu erzählen, hat auf mich nicht dieselbe Wirkung, wie es „in die Welt hinauszurufen“ … unabhängig davon, wer letztendlich zuhören (oder lesen) wird. Vor dem Angesicht der Öffentlichkeit zu bekunden, was geschehen ist, stellt einen essenziellen Faktor meiner Heilung dar.

Hier also nun eine Triggerwarnung: die folgenden Schilderungen können belastend wirken. Ich wähle bewusst möglichst sachliche Formulierungen. Am Ende werde ich über die Auflösung schreiben. Insofern „Happy End“ Spoiler, der aber nicht ungeschehen macht, worum es geht.

Ab hier weiterzulesen ist deine eigene Entscheidung.

Als ich 13 Jahre alt war, durchlebte ich während meiner Schulzeit eine Phase, dich ich bis vor wenigen Tagen völlig aus meiner Erinnerung verbannt hatte. Ein Ereignis in der Gegenwart holte die dazugehörigen Emotionen und Bilder schlagartig in mein Bewusstsein. Damals, vor nunmehr 40 Jahren, waren manche Mädchen meiner Klasse körperlich reifer als andere, hatten bereits weiblichere Formen. In den Pausen, sobald die Lehrkraft den Raum verlassen hatte, packten mehrere Jungs ein Mädchen, hielten sie fest, griffen mit ihren Händen unter die Kleidung, berührten die Mädchen an ihren Brüsten. Sie nannten das „Ausgreifen“. Die Mädchen versuchten sie loszureißen, strampelten, doch sie hatten keine Chance. Das geschah täglich, über Wochen und Monate, beinahe in jeder Pause, ausgenommen die Mädchen schafften es rechtzeitig auf die Toilette zu verschwinden. Ich war 13 Jahre alt, körperlich nicht so weiblich ausgeprägt wie andere, aber ich hatte zu jener Zeit bereits einige traumatische Erlebnisse hinter mir, war mit mir selbst völlig überfordert, versuchte einerseits, möglichst nirgends anzuecken um nicht weiter „schlimme Konsequenzen“ zu provozieren, und andererseits kam ich mit meinen Emotionen überhaupt nicht klar. Täglich diese sexuellen Übergriffe zu erleben, die aufgewühlten Emotionen der anderen Mädchen abzubekommen, und zu erleben, dass niemand etwas dagegen unternahm, denn keines der Mädchen ging zu einem Lehrer und meldete die Vorfälle. Über die Gründe dafür kann ich nur spekulieren. Auch die Jungs, die teilnahmslos zusahen, unternahmen nichts. Es war, als würden alle irgendwie zustimmen. Für mich war das mehr als verstörend. Ich hatte weder den Mut noch die Kraft, mich als Außenseiterin, die ich damals bereits war, gegen einen Klassenverband zu stellen. So blieb mir nur ein Ausweg: ich unterdrückte meine Emotionen, mein Fühlen, so weit, bis ich nichts mehr fühlte – und das blieb mir lange Zeit erhalten. Gut 30 Jahre konnte ich manche Bereiche meines Körpers nicht spüren, lehnte Teile meiner Weiblichkeit ab, hatte das Gefühl dafür verloren bzw. unterdrückt. Die Erinnerungen versanken im Dunkel des Verdrängens, doch die Gefühlstaubheit blieb.

Anfang Mai geschah etwas, das mich triggerte. Ich nahm bei einer anderen Frau das Gefühl der Hilflosigkeit wahr, spürte ihr Ausgeliefertsein einer Situation in Kombination mit Männern, die diese Situation kontrollieren … es war, als würde ich durch ein temporales Wurmloch zurück in meine Schulzeit fallen, in einer jener Pausen. Mein damals eingefrorener Reflex der Selbstverteidigung und des Beschützens einer hilflosen Person, brach durch und ich hatte nicht die geringste Chance, diesen zu kontrollieren. Es war ein Blackout mit luzidem Träumen. Ich nahm war und war doch unfähig, mein Handeln – den Schutzreflex – zu steuern.

Seither arbeite ich daran, die Ereignisse zu verarbeiten, sowohl die neueren als auch jene aus meiner Schulzeit. Mir ist heute bewusst, dass ich als 13jährige völlig überfordert war und nicht anders handeln konnte – auch wenn ich mich schuldig fühlte, nichts gegen die Übergriffe unternommen zu haben. Ich konnte diesen Punkt meiner Vergangenheit auch vor dem Trigger nicht bearbeiten, da meine Erinnerungen völlig verdrängt waren. Insofern überrollten mich die Ereignisse. Das Einzige, was ich wirklich tun kann, ist all dies nun gründlich aufzuarbeiten, damit nichts davon wieder ins Unbewusste absinken kann/muss.

Dies ist es auch, was ich an dieser Stelle weitergeben möchte an jene, die ähnlich schlimme Erfahrungen gemachten haben und nur dadurch weitermachen konnten, indem sie diese völlig verdrängt haben.

Wenn so etwas wie aus dem Nichts in der Gegenwart auftaucht, dann stellt dich dem! Schieb es nicht wieder zurück in den Kerker des Verdrängens. Es würde wieder an die Oberfläche kommen. Nutze die Gelegenheit und verarbeite – was auch immer es ist. Es kann nur dann an die Oberfläche des Bewusstseins kommen, wenn dein Unterbewusstsein der Auffassung ist, dass du stark genug dafür bist. Auch wenn es schlimm ist, stell dich dem verdrängten Schmerz, damit er gehen kann.

Ich ging neuerlich durch jenen Schmerz, den ich vor 40 Jahren in die Tiefen meines Unterbewusstseins zurückgedrängt hatte. Dazu gehörten ein paar schlaflose Nächte, zittrige Tage, eine Menge Tränen, wertvolle Gespräche mit Menschen, die mir Halt gaben. Fragende Blicke in den Spiegel. Ein Gefühlskarussell aus Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Schmerz, Angst, Schuld und Scham – doch irgendwann war ich durch. Mittlerweile fühle ich mich frei, kann auf die Ereignisse von vor 40 Jahren und Anfang Mai zurückblicken und emotional in Balance bleiben.

Was geschehen ist, ist geschehen. Nichts, was jemand sagt oder tut, kann es etwas daran ändern. Was geschehen ist, hätte niemals geschehen dürfen. Was in der Gegenwart zu tun bleibt, ist alles zu unternehmen, damit die Geschehnisse sich nie mehr wiederholen. Das ist nur möglich, wenn wir uns dessen bewusst sind, was geschehen ist, und uns für andere Wege entscheiden.

Verdrängung erhöht die Gefahr der Wiederholung.  

Mein Unterbewusstsein entließ eine verdrängte Erinnerung in die Gegenwart, weil es darauf vertraute, dass ich stark und reflektiert genug sei, um damit klarzukommen. Ich denke, ich habe das mir Bestmögliche daraus gemacht. Vielleicht nicht die optimale Lösung, aber jene, die mir hier und heute möglich ist – denn genau darum geht es im Leben: das Bestmögliche zu tun.

Bild: pixabay.com

FÜHLEN IST KEINE KRANKHEIT

… auch wenn es sich manchmal so anfühlt bzw. einem dieser Eindruck von „weniger einfühlsamen“ Menschen mit Bemerkungen in der Art von „sei nicht so zimperlich“ vermittelt wird. Deshalb hier nun einige Offenbarungen, die in dieser geballten Ladung noch niemand zuvor zu lesen/hören bekommen hat.

Es ist schon eine Weile her, als ich zu einem Kaffeekränzchen eingeladen war bei der Freundin einer Freundin, die im 11. Stock wohnte. Als Kind vom Land war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so hoch hinausgekommen und war nicht vorbereitet auf das, was folgen sollte. Kaum aus dem Lift gestiegen, verspürte ich starke Gleichgewichtsprobleme. Mir wurde übel. Alles schien zu schwanken. Das tat es auch, wie die Freundin der Freundin bestätigte, bei starkem Wind schwankte das Gebäude auf dieser Höhe um wenige Zentimeter, aber das würde man nicht spüren. Man vielleicht nicht, ich schon.

Mein erstes Testliegen auf einem Wasserbett führte beinahe zu einer sehr unpassenden Reaktion im Möbelhaus – ich wurde seekrank.

Die Soca (Isonzo) ist ein wild-romantischer Fluss in Slowenien, der streckenweise durch Canyons verläuft. Der Wanderweg führt dann etliche Meter oberhalb auf einem nahezu ebenen Felsplateau entlang, während man das wilde Wasser in der schmalen Schlucht unterhalb tosen hört – und ich kaum aufrecht gehen konnte, weil ich das Gefühl hatte, mich durchs tosende Wasser zu bewegen.

Ich fühle unterirdische Wasseradern, elektrische Leitungen in Wänden, sehe um die Körper von Lebewesen einen Lichtkranz und an klaren Tagen manchmal sogar parallele Linien am Himmel (nein, keine Kondensstreifen von Flugzeugen, aber vielleicht das, woran Zugvögel sich orientieren)  … meine fühlende Wahrnehmung der Welt rund um mich ist überdurchschnittlich ausgeprägt.

Bin ich deshalb krank?

Diese fühlende Wahrnehmung schließt auch Menschen ein – und wie! Wenn ich mich auf eine Person fokussiere, kann ich fühlen, wie es dieser Person in diesem Augenblick geht. Manchmal „überfällt“ mich eine derartige Wahrnehmung wie aus dem Nichts. Ein kurzes Telefonat später weiß ich: ich spinne nicht. Ich nehme auf eine Weise wahr, die leicht Richtung Esoterik oder Übersinnlich interpretiert werden kann, aber für mich ist es einfach normaler Alltag. Ich sehe darin nichts „Überirdisches“.

Allerdings kann es eine ziemliche Herausforderung in selbigem Alltag sein, mich in der Nähe von Menschen aufzuhalten und diese wahrzunehmen – mit all ihren negativen Emotionen, schmerzhaften Krankheiten, all dem Leid. Natürlich nehme ich auch das Positive wahr und das gerne, weil es angenehm ist. Anders als das Leidvolle, Schmerzhafte, Negative, Aggressive, Zerstörerische, Hasserfüllte …

Wie sich das für mich anfühlt, lässt sich in diesem Vergleich anschaulich erklären: Stell dir einen großen gläsernen Krug mit kristallklarem Wasser vor, in das jemand ein Fässchen Tinte kippt. Sofort trübt sich das Wasser ein. Ähnlich geht es mir: Negative Menschen trüben mein Gefühlsleben ein. Leider verschwindet diese Eintrübung nicht automatisch, wenn ich mich von den Menschen entferne. Das Trübe bleibt, bis ich aktiv daran arbeite, mein Fühlen wieder ins Positive zu rücken.

Über all die Jahre habe ich gelernt, meine Wahrnehmung so weit zu dämpfen, dass ich mich sowohl in Hochhäusern als auch unter Menschen bewegen kann. Ich mache mir z.B. im Vorfeld bewusst, dass hohe Gebäude im Wind schwanken, mein Körper stellt sich drauf ein, auszugleichen … alles bestens. Ähnlich funktioniert es mit Menschen. Wenn ich mich auf das einstelle, was auf mich zukommen könnte, komme ich damit klar, doch in Summe kostet es Energie. Eine gewisse Grundspannung ist nötig, damit das „Sicherheitsnetz“ gespannt bleibt und mich auffangen kann. Völlige Entspannung ist nur weit weg von anderen Menschen inmitten der Natur möglich – oder bei einigen wenigen Menschen, denen ich bedingungslose vertraue und deren Energie mir vertraut ist. Für Öffis habe ich eigene Playlists mit für mich positiver Musik um „die Dunkelheit der Emotionen rundum“ auszugleichen.

Bin ich krank?

Nein, ich bin auch keine Mimose, ich bin hochsensibel (HSP). Die Flut dessen, was ich wahrnehme, auszuhalten, kann eine Herausforderung sein. Manchmal hilft da nur die Flucht ins „Abschalten der Empfindungen“, also meinen Spock-Modus. Zumindest zeitweilig kann das Helfen, „normal zu funktionieren“, auch wenn es als Dauerzustand ruinös ist.

Apropos „normal“: eine spannende Erfahrung war das Absolvieren diverser HSP-Tests. Meine Werte lagen bei 8 bis 9 von 10. „Normale“ liegen zwischen 4 und 5 (=Referenzwert). Womit wieder einmal bewiesen wäre … ich bin vieles, aber nicht durchschnittlich 😉

Heute verwende ich eine Menge „hinterfragende Gänsefüßchen“, denn um HSP zu ermitteln, braucht es zuvor erwähnten Referenzwert. Wer sagt, dass dieser Referenzwert „normal“ und gesund ist? Könnte es nicht sein, dass HSP eigentlich der „gesunde Normalzustand“ menschlicher Wesen und alles andere „ungesund abgestumpft“ ist, um den Lärm, die Hektik und sonstige zivilisatorische Rahmenbedingungen aushalten zu können?

Stellt sich also die Frage: Bunte Pillen einwerfen, um die Wahrnehmung zu dämpfen und die „Zivilisation“ leichter auszuhalten? Für mich absolut keine Option. Ich möchte nicht verzichten auf mein Geschenk des Lebens, mehr zu fühlen als andere. Würde jemand mit dem perfekten Gehör Pillen einwerfen, um danach normal – sprich: weniger – zu hören?

In freier Natur, weit weg von anderen Menschen, ist Hochsensibilität für mich kein Problem. Im Gegenteil. Es ist ein wunderbares, intensives Erleben, ein Gefühl von Verbundenheit mit allem rundum, als wäre ich ein einzelnes Blatt in der Krone eines mächtigen Baumes, ein Wassertropfen im Ozean, ein Sandkorn in der Wüste, eine Note in einer Symphonie, ein Stern am Abendhimmel, ein Löwenzahnschirmchen …

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RE-TRAUMATISIERUNG

Das Bild zeigt ein kleines Bäumchen, das sich tapfer neben den Schienen der Wiener U6 (die fährt überirdisch) seinen Platz an der Sonne erkämpft … und dabei im Minutentakt eins drübergezogen bekommt. Against all odds.

Genauso fühlt sich für mich Re-Traumatisierung an.

Vor einigen Tagen fand ich mich in einer Situation wieder, in der Menschen, zu denen ich eine persönliche Beziehung habe und für die ich mich verantwortlich fühle, von anderen Menschen drangsaliert wurden. Ich stellte mich dazwischen, versuchte rund 20 Menschen aufzuhalten, um einige wenige zu schützen.

Keine Chance.

Ich wurde überrollt. Physisch ebenso wie emotional.

Mit einem Schlag war es wieder da, das Gefühl, ausgeliefert zu sein, wehrlos, über sich ergehen lassen zu müssen was auch immer da kommt, verletzt zu werden, entwürdigt, gedemütigt, wertlos.  

Re-Traumatisierung.

Seither fühle ich mich wie dieses kleine Bäumchen. Im Minutentakt überrollen mich Gedanken und Emotionen. Unaufhaltsam. Der Körper unter Dauerstress. Ausnahmezustand. Kopflastige Menschen beurteilen mich, ohne auch nur erahnen zu können, was ich fühle. Ihre Urteile sind Sonderzüge, die zusätzlich über die Schienen donnern.

Das Hinterfragen der eigenen Handlungen wird zur Fallgrube, in der die spitzen Pfähle der Schuld nur darauf warten, mich zu durchbohren. Wer ist Täter? Wer Opfer? Wer angegriffen wird und sich zur Wehr setzt wird zum Täter, die Täter zum Opfer. Pervers, aber in einer kopflastigen Welt aus dem Gefühl zu leben und seinem Herzen zu folgen, scheint verkehrt. Die Mehrheit der Stimmen verdreht die Realität. Ein weiterer Wagon hängt sich an den Zug an.

All das soll aufhören. Sterben? Nein, einfach nur weg. Weg von allem. Aber wohin? Davonlaufen führt letztendlich irgendwann an eine Wand. Mit dem Rücken zur Wand bleibt nur ein Ausweg. Zwischendurch drängt die Erkenntnis an die Oberfläche: Niemand versteht mich! Selbst wenn ich erzähle, was in mir los ist, kann es niemand nachvollziehen.

Sie fragen: Warum?

Und ich antworte: Weil ein Blick, ein Wort, einen Stachel in das Herz des Drachen bohren kann und sein über Äonen aufgestauter Schmerz sich in einem Feuerball entlädt, voller Verzweiflung darüber, sein liebendes Herz nicht schützen zu können vor den Zerstörern.

Wer soll das verstehen? Wer spricht meine Sprache der Seelenbilder? Wer kann dem roten Faden im Labyrinth meiner Empfindungen folgen, die im Sekundentakt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springen bis da nur noch ein einziger Schrei ist.

Ich bin anders.

Ich bin unendlich allein – wie das kleine Bäumchen. Chancenlos.

Aufgeben ist keine Option.

Von mir wird erwartet, zu funktionieren – trotz Traumatisierungen und Re-Traumatisierungen. Ich habe gelernt zu funktionieren, oberflächlich so zu werden, wie die anderen …

Ich mache mir bewusst, dass die Situation – so schlimm sie war – mittlerweile Tage zurückliegt, in der Vergangenheit. Sie war damals gegenwärtig, aber hier und jetzt ist sie es nur mehr in meinem Kopf. Innere Bilder sind veränderbar. Also gebe ich diesem kleinen Bäumchen – mir selbst – eine Chance. Stelle mir vor, wie der Beton zu Sand zerfällt. Wie die Steine sich in Kiefernnadeln auf dem Waldboden verwandeln. Wie die Stahlschiene zu einer knorrigen Wurzel wird und das kleine Bäumchen seinen Platz an der Sonne findet, diesmal mit der Chance auf Frieden.

Allmählich beruhigen sich die Gedanken und Emotionen.

… doch in mir drin, bin ich anders, fühle und denke anders, heute, hier und jetzt, und vielleicht bis zu meinem letzten Atemzug.

Keine Ahnung, wie lange es dauern wird, wie oft ich noch meinen Blick auf das kleine Bäumchen fokussieren und seine Umgebung verändern werde, bis die Wunde in meiner Seele, die durch Menschen aufgerissen wurde, sich wieder geschlossen hat. Ich weiß nur eines: auch in diesem Schmerz liegt die Chance, jenes zu erkennen und zu entfernen, was zuvor eine vollständige Heilung verhindert hat.

Die Dunkelheit wird niemals siegen, solange ein Funke Hoffnung den Weg leuchtet.

EIN LACHENDES UND EIN WEINENDES AUGE

… waren es, die mich gestern begleitet habe – und die (neuerliche) Erkenntnis, dass alles im Leben einen tieferen Sinn hat, der sich oft erst spät offenbart.

Begonnen hat es damit, dass ich mich für ehrenamtliche Einsätze als Hüttenwirtin gemeldet hatte. Gestern fand die „Einschulung“ vor Ort statt. Aufgrund der Bahnverbindungen reiste ich bereits am Vortag an, übernachtete im Tal und spazierte früh morgens gemütlich zum Treffpunkt bei der Talstation der (noch geschlossenen Bergbahn). Gleich daneben befindet sich ein Hotel, dessen Name mir irgendwie bekannt vorkam von dem Moment an, als ich die erste Info erhielt.

Allmählich dämmerte es mir, ich zählte 1 und 1 zusammen … Hotel mit diesem Namen + Talstation = ich hatte hier vor einigen Jahren mit meinem damaligen Partner einen Skiurlaub verbracht… und kaum noch eine Erinnerung daran. Nichts hatte einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ganz anderes als gestern. Die überwältigende Bergkulisse mit den noch weißen Gipfeln, das Grün im Tal mit den bunten blühenden Tupfern, die vereinzelten Wolken, das zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes, die lebendige Landluft 😉 … oafoch nua schee (einfach nur schön). Ich fand mich im Gefühl der „Umarmung des Lebens“ wieder, erfüllt von Dankbarkeit, Zufriedenheit, Gelassenheit, Geborgenheit, mit mir selbst im Reinen – gestern.

Vor ein paar Jahren konnte ich all das nicht fühlen, nicht die Schönheit der Landschaft um mich herum wahrnehmen. Es zog an mir vorüber. Ich erlebte die Welt wie durch einen emotionsdämpfenden Nebel. Ich war da – und auch nicht. Ständig darauf fokussiert, das zu tun, was ich dachte, das andere von mir erwarteten. Keinen Fehler zu machen. „Normal“ zu sein. Perfekt zu Funktionieren. Das Erleben des Augenblicks musste dem Kontrollwahnsinn weichen. Nur kein falsches Wort, keine zeitverzögerte Antwort, keine unpassende Handlung. Meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche? Unwichtig! Erwartungshaltungen erfüllen war wichtiger. Mein Denken war ständig auf 120% unterwegs, für Fühlen blieb keine Zeit.

Gestern stand ich am Fuß jenes Berges, auf dem ich im Sommer einige Zeit als Hüttenwirtin dabei helfen werden, ein cooles, auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn basierendes Konzept der Bewirtschaftung umzusetzen – und ich fühlte, dass es gut werden wird. Spürte die positive Stimmung zwischen den Menschen, die an diesem Tag zum ersten Mal aufeinandertrafen und sich auf Anhieb in den Dienst der Sache stellten. Kein Ego, das in den Vordergrund drängte, stattdessen die Bereitschaft, gemeinsam zu tun. Einer der viel zu seltenen Momente, in denen Menschen einfach Menschen sind, ohne mehr sein zu wollen.

Mein weinendes Auge blickte zurück in die Vergangenheit auf all das, was ich nicht zuließ zu fühlen. Mein lachendes Auge blickte in die Runde und freute sich auf das Kommende.

Die eigenen Gefühle „auf Mute zu schalten“ um rein aus dem Kopf heraus zu leben, Empfindungen zu konstruieren und sich einzureden, etwas zu fühlen, das war mein „Kerker“, dem ich erst vor wenigen Jahren entronnen bin. Echte Gefühle empfand ich nur, wenn ich allein war. Schutz vor Verletzung? Ja, aber gleichzeitig mit meiner „Unangreifbarkeit“ wurde ich auch „nicht mehr greifbar“ für andere. Unverständlich. Anders. Suspekt. Dies war meine selbstgewählte emotionale Isolation. Was auf den ersten Blick gar nicht so schlimm anmuten mag (emotionale Unberührbarkeit), bedenkt man die Rücksichtslosigkeit, mit der man heutzutage leider allzu oft konfrontiert wird, ist in Wahrheit ein Gefängnis, dem zu viele nur auf eine, finale Weise entrinnen können.

Da ist es wieder, das traurige Auge, das sich wünscht, meine Worte würden all jene erreichen, die sich vor der Welt in den „sicheren“ emotionalen Kerker flüchten und könnten ihnen vermitteln, das es einen Ausweg gibt, der zurück in die Umarmung des Lebens führt und sie eben jenes auf eine Weise spüren lässt, von der sie möglicherweise geträumt haben, aber sie nicht für umsetzbar hielten… und dann rückt mein lachendes Auge in den Vordergrund, das voller Hoffnung nach vorne blickt und sieht, das DU in diesem Augenblick diese Zeilen liest, meine Worte ihren Weg zu DIR gefunden haben. Und wer weiß, vielleicht öffnen sie für DICH eine Tür zurück in die Umarmung des Lebens. Das wünsche ich DIR von ganzem Herzen.

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