FÜHLEN IST KEINE KRANKHEIT

… auch wenn es sich manchmal so anfühlt bzw. einem dieser Eindruck von „weniger einfühlsamen“ Menschen mit Bemerkungen in der Art von „sei nicht so zimperlich“ vermittelt wird. Deshalb hier nun einige Offenbarungen, die in dieser geballten Ladung noch niemand zuvor zu lesen/hören bekommen hat.

Es ist schon eine Weile her, als ich zu einem Kaffeekränzchen eingeladen war bei der Freundin einer Freundin, die im 11. Stock wohnte. Als Kind vom Land war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so hoch hinausgekommen und war nicht vorbereitet auf das, was folgen sollte. Kaum aus dem Lift gestiegen, verspürte ich starke Gleichgewichtsprobleme. Mir wurde übel. Alles schien zu schwanken. Das tat es auch, wie die Freundin der Freundin bestätigte, bei starkem Wind schwankte das Gebäude auf dieser Höhe um wenige Zentimeter, aber das würde man nicht spüren. Man vielleicht nicht, ich schon.

Mein erstes Testliegen auf einem Wasserbett führte beinahe zu einer sehr unpassenden Reaktion im Möbelhaus – ich wurde seekrank.

Die Soca (Isonzo) ist ein wild-romantischer Fluss in Slowenien, der streckenweise durch Canyons verläuft. Der Wanderweg führt dann etliche Meter oberhalb auf einem nahezu ebenen Felsplateau entlang, während man das wilde Wasser in der schmalen Schlucht unterhalb tosen hört – und ich kaum aufrecht gehen konnte, weil ich das Gefühl hatte, mich durchs tosende Wasser zu bewegen.

Ich fühle unterirdische Wasseradern, elektrische Leitungen in Wänden, sehe um die Körper von Lebewesen einen Lichtkranz und an klaren Tagen manchmal sogar parallele Linien am Himmel (nein, keine Kondensstreifen von Flugzeugen, aber vielleicht das, woran Zugvögel sich orientieren)  … meine fühlende Wahrnehmung der Welt rund um mich ist überdurchschnittlich ausgeprägt.

Bin ich deshalb krank?

Diese fühlende Wahrnehmung schließt auch Menschen ein – und wie! Wenn ich mich auf eine Person fokussiere, kann ich fühlen, wie es dieser Person in diesem Augenblick geht. Manchmal „überfällt“ mich eine derartige Wahrnehmung wie aus dem Nichts. Ein kurzes Telefonat später weiß ich: ich spinne nicht. Ich nehme auf eine Weise wahr, die leicht Richtung Esoterik oder Übersinnlich interpretiert werden kann, aber für mich ist es einfach normaler Alltag. Ich sehe darin nichts „Überirdisches“.

Allerdings kann es eine ziemliche Herausforderung in selbigem Alltag sein, mich in der Nähe von Menschen aufzuhalten und diese wahrzunehmen – mit all ihren negativen Emotionen, schmerzhaften Krankheiten, all dem Leid. Natürlich nehme ich auch das Positive wahr und das gerne, weil es angenehm ist. Anders als das Leidvolle, Schmerzhafte, Negative, Aggressive, Zerstörerische, Hasserfüllte …

Wie sich das für mich anfühlt, lässt sich in diesem Vergleich anschaulich erklären: Stell dir einen großen gläsernen Krug mit kristallklarem Wasser vor, in das jemand ein Fässchen Tinte kippt. Sofort trübt sich das Wasser ein. Ähnlich geht es mir: Negative Menschen trüben mein Gefühlsleben ein. Leider verschwindet diese Eintrübung nicht automatisch, wenn ich mich von den Menschen entferne. Das Trübe bleibt, bis ich aktiv daran arbeite, mein Fühlen wieder ins Positive zu rücken.

Über all die Jahre habe ich gelernt, meine Wahrnehmung so weit zu dämpfen, dass ich mich sowohl in Hochhäusern als auch unter Menschen bewegen kann. Ich mache mir z.B. im Vorfeld bewusst, dass hohe Gebäude im Wind schwanken, mein Körper stellt sich drauf ein, auszugleichen … alles bestens. Ähnlich funktioniert es mit Menschen. Wenn ich mich auf das einstelle, was auf mich zukommen könnte, komme ich damit klar, doch in Summe kostet es Energie. Eine gewisse Grundspannung ist nötig, damit das „Sicherheitsnetz“ gespannt bleibt und mich auffangen kann. Völlige Entspannung ist nur weit weg von anderen Menschen inmitten der Natur möglich – oder bei einigen wenigen Menschen, denen ich bedingungslose vertraue und deren Energie mir vertraut ist. Für Öffis habe ich eigene Playlists mit für mich positiver Musik um „die Dunkelheit der Emotionen rundum“ auszugleichen.

Bin ich krank?

Nein, ich bin auch keine Mimose, ich bin hochsensibel (HSP). Die Flut dessen, was ich wahrnehme, auszuhalten, kann eine Herausforderung sein. Manchmal hilft da nur die Flucht ins „Abschalten der Empfindungen“, also meinen Spock-Modus. Zumindest zeitweilig kann das Helfen, „normal zu funktionieren“, auch wenn es als Dauerzustand ruinös ist.

Apropos „normal“: eine spannende Erfahrung war das Absolvieren diverser HSP-Tests. Meine Werte lagen bei 8 bis 9 von 10. „Normale“ liegen zwischen 4 und 5 (=Referenzwert). Womit wieder einmal bewiesen wäre … ich bin vieles, aber nicht durchschnittlich 😉

Heute verwende ich eine Menge „hinterfragende Gänsefüßchen“, denn um HSP zu ermitteln, braucht es zuvor erwähnten Referenzwert. Wer sagt, dass dieser Referenzwert „normal“ und gesund ist? Könnte es nicht sein, dass HSP eigentlich der „gesunde Normalzustand“ menschlicher Wesen und alles andere „ungesund abgestumpft“ ist, um den Lärm, die Hektik und sonstige zivilisatorische Rahmenbedingungen aushalten zu können?

Stellt sich also die Frage: Bunte Pillen einwerfen, um die Wahrnehmung zu dämpfen und die „Zivilisation“ leichter auszuhalten? Für mich absolut keine Option. Ich möchte nicht verzichten auf mein Geschenk des Lebens, mehr zu fühlen als andere. Würde jemand mit dem perfekten Gehör Pillen einwerfen, um danach normal – sprich: weniger – zu hören?

In freier Natur, weit weg von anderen Menschen, ist Hochsensibilität für mich kein Problem. Im Gegenteil. Es ist ein wunderbares, intensives Erleben, ein Gefühl von Verbundenheit mit allem rundum, als wäre ich ein einzelnes Blatt in der Krone eines mächtigen Baumes, ein Wassertropfen im Ozean, ein Sandkorn in der Wüste, eine Note in einer Symphonie, ein Stern am Abendhimmel, ein Löwenzahnschirmchen …

Bild: pixabay.com

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