Jeder Mensch hat individuelle Bilder im Kopf. Vorstellungen, was richtig/falsch, gut/schlecht ist. Was andere (möglicherweise) denken, was sie motiviert. Etliche dieser Bilder lassen sich unter dem Begriff „Vorurteile“ zusammenfassen. Männer sind … Frauen sind … Borderliner sind …
Es braucht nicht viel, um abgestempelt zu werden als ….
Vor kurzem bin ich auch mit „Bildern im Kopf“ zu Borderline konfrontiert worden – aber auch mit dem ehrlichen Interesse, diese zu hinterfragen und abzugleichen. Eine echte Wohltat, Menschen zu treffen, die über den Tellerrand der Vorurteile hinausblicken auf das, was es ist.
Eines dieser Vorurteile lautet: „Borderliner sind eine Gefahr für andere und sich selbst“. Sind sie das wirklich? Oder präziser gefragt: Sind Borderliner gefährlicher für sich selbst und andere als Nicht-Borderliner? Wer richtet mehr Schaden in dieser Welt an? Bei Borderlinern kann Selbstverletzung vorkommen, aber wie viel (Selbst)Verletzung findet durch Nicht-Betroffene statt? Bislang habe ich keine Studie gefunden, die sich diesem Vergleich widmet, aber ich traf auf eine Menge Vorurteile der Ablehnung, Ausgrenzung, Stigmatisierung ….
Ich liebe es, Vorurteile zu hinterfragen.
Oder neue Perspektiven zu eröffnen, so wie diese:
Ich bin Borderlinerin. Mein emotionales Gleichgewicht ist nur bedingt „von allein stabil“, weshalb ich mir über die Jahre eine tägliche Routine der Psychohygiene angewöhnt habe um Schwankungen auszugleichen und mein inneres Gleichgewicht bewusst herzustellen. Mindestens eine Stunde pro Tag (in der Bahn, beim Waldspaziergang oder auch auf der Couch) widme ich mich dem Reflektieren meiner Erlebnisse in einer Art „Achtsamkeits-Meditation“. Was ist geschehen? Wie hat es auf mich gewirkt? Was habe ich gefühlt? Wie habe ich reagiert? Wie hat das wiederum aufs Umfeld gewirkt? Was will ich künftig anders machen?
Wie viele Nicht-Betroffene reflektieren täglich ihr Verhalten und dessen Auswirkungen?
Achtsamen Umgang mit anderen und sich selbst erlebe ich im Alltag eher selten. Wenn ich daran denke, wie häufig ich in Öffis angerempelt werde (obwohl ich nicht zu übersehen bin mit über 1,80 m), neige ich dazu, Achtsamkeit unter „ferner liefen“ abzulegen. Auch all die verletzenden Worte und geringschätzigen Blicke rundum … Respekt und Höflichkeit sind offenbar ebenso aus der Mode gekommen wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit.
Wie wäre der Alltag in einer achtsamen Gesellschaft, in der jeder Mensch sich täglich eine Stunde der Reflexion und Psychohygiene widmet? Eine kühne Spekulation von mir: Rücksichtlosigkeit wäre die Randerscheinung unter „ferner liefen“.
Oder im Sinne von „Henne oder Ei“ gedacht: Wie verbreitet wäre Borderline in einer achtsamen Gesellschaft, in der achtsame Menschen darauf achten, nicht übergriffig zu werden oder andere zu traumatisieren? Oder sie allein lassen mit Ereignissen, die sie nicht verarbeiten können? Wer sind die Täter? Wer die Opfer?
Rotieren die Bilder im Kopf?
Jeder, der schon mal mit Vorurteilen konfrontiert war, weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, vorverurteilt zu werden und wie mühsam es ist, daran etwas zu ändern. Viele Jahre meines Lebens fühlte ich mich fehlerhaft, defekt, kaputt … dieses Gefühl hat eine Menge Schaden angerichtet. Ich frage mich, was alles hätte vermieden werden können ohne dieses Defekt-Gefühl? Wie viel schneller und einfacher wäre mein Heilungsprozess verlaufen? Hilfreich war es sicherlich nicht, vom Umfeld vermittelt zu bekommen „du bist fehlerhaft“.
Aber so sind sie, die Bilder im Kopf, omnipräsent und nur selten hinterfragt. Ebenso wie all die Informationen, mit denen wir tagtäglich über diverse (soziale) Medien berieselt werden und aus denen unsere Bilder im Kopf entstehen. Wie viel davon ist wahr? Was Fake? Ist die Welt wirklich jener Ort des Schreckens, die Menschheit ohne Zukunft, oder findet sich rund um das Faktenkorn eine Menge Fake-Spreu?
Fakt ist, dass negative Gedanken und Gefühle sich negativ auf die physische und psychische Gesundheit eines Menschen auswirken. Wir werden davon langfristig krank und sterben früher. Einen Menschen laufend mit dem Vorurteil „du bist fehlerhaft“ abzustempeln sollte – meiner Ansicht nach – ebenso wie Körperverletzung behandelt werden, denn es ist per se Seelenverletzung. Leider sind Narben auf der Seele weniger sichtbar als Narben an den Unterarmen. Über letztere verfüge ich nicht, weshalb ich auch schon mal skeptische Blicke ernte im Sinne von „Du bist wirklich Borderlinerin – ohne Narben?“ Wieder so ein Bild im Kopf. Tatsächlich gibt es weniger Borderliner, die sich selbst Schnittverletzungen zufügen als solche, die es nicht tun. Dieses Bild ist allerdings weniger weit verbreitet.
Die Fake-Spreu lässt sich mit gezieltem Hinterfragen und konsequenter Achtsamkeit vom Faktenkorn trennen. Mit ihr verschwinden dann auch einige Bilder im Kopf, entsteht Raum für neue Bilder, können Vorurteile durch Erfahrungswerte ersetzt werden. Natürlich ist das ein bewusster Prozess, anders als unbewusstes Reagieren anhand unreflektierter Bilder.
Aber wie bei allem im Leben, führt auch Übung zum Erfolg und zur Meisterschaft. Für mich sind meine täglichen Achtsamkeitsmeditationen ein integrierter Bestandteil meines Lebens, ein Automatismus, Routine. Ich komme gar nicht auf die Idee, einen Tag mal NICHT zu reflektieren. Vielleicht bin ich keine typische Borderlinerin, aber auch das ist nur ein Bild im Kopf.
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