LIEBE BIS ZUM SCHLUSS

Dies ist eine wahre Begebenheit, die ich etwas zeitverzögert erzähle. Sie hat sich am vergangenen Wochenende zugetragen, aber sie berührt mich bis heute und wird das vermutlich noch lange tun.

Auf dem Weg zu meinem ersten Einsatz als ehrenamtliche Hüttenwirtin traf ich am heimatlichen Bahnsteig einen älteren Mann mit Rucksack, der offensichtlich ebenfalls eine Wandertour geplant hatte. Es stellte sich rasch heraus, dass wir dasselbe Ziel ansteuerten und er noch ein Quartier für die kommende Nacht suchte. Er entschied kurzerhand, in meiner Hütte zu nächtigen.

Da es sich um eine Liebesgeschichte handelt, nenne ich den älteren Mann hier einfach Romeo.

Romeo und ich trafen uns jeweils zum Umsteigen an den Bahnhöfen. Dazwischen hatten wir Reservierungen in unterschiedlichen Wagons. Am Ziel angekommen trennten sich unsere Wege – vorerst – dann sie kreuzten sich auf den Wanderwegen erneut. Letztendlich landeten wir bei in einer geselligen Runde in der Hütte eines Nachbarn bei ein paar Schnapserl, es wurde viel geredet und die Stunden vergingen wie im Flug.

Das für mich faszinierende und nachhaltig beeindruckende: Romeo wird im kommenden Jänner 91 Jahre alt. Er bewegt sich langsam, aber sicher da oben am Berg. Seine Julia ist ein paar Jahre jünger als er. Leider spielen ihre Beine nicht mehr mit, weshalb er einmal pro Woche allein in seine geliebten Berge fährt. Die restliche Zeit verbringt er mit Julia. Romeo telefoniert auch mehrmals pro Tag mit Julia wenn er unterwegs ist, erzählt ihr alles, was er erlebt, wen er getroffen hat, was er gegessen hat … er lässt sie teilhaben an dem, was ihr anders nicht möglich wäre. Wenn Romeo mit Julia spricht, spürt man die tiefe Zuneigung in seiner Stimme, die innige Verbundenheit. Da kommunizieren zwei Menschen liebevoll miteinander, die zusammengewachsen sind im Laufe eines langen gemeinsamen Lebens, das sicherlich nicht immer leicht war, dennoch gingen sie ihren Weg gemeinsam, auch auf ihren Wanderungen. Nun geht Romeo und trägt seine Julia dabei im Herzen.

Es war für mich, die in einem Elternhaus frei von gelebter Zuneigung aufgewachsen ist, unbeschreiblich berührend, erleben zu dürfen, dass zwei Menschen in Liebe gemeinsam alt geworden sind. Romeo und Julia leben nicht nebeneinander, sondern miteinander und füreinander.

Für mich sind Romeo und Julia ein Vorbild für das, was eine Partnerschaft sein sollte. Bislang hielt ich meine diesbezügliche Vorstellung für eine romantische Fantasie, hoffnungsvoll, doch wenig realistisch. Romeo und Julia sind für mich der Beweis, dass es möglich ist.

Die Begegnung mit diesen besonderen Menschen – direkt und indirekt – gehört zu den prägenden Momenten meines Lebens. Augenblicke, die wenig spektakulär waren, die man dennoch nie vergisst, weil sie intensive Emotionen wachrufen: Dankbarkeit, Zuversicht, Hoffnung, Liebe.

Von ganzem Herzen wünsche ich Romeo und Julia noch viele gemeinsame Jahre – und wenn das Unausweichliche kommt, dann möge das Schicksal gnädig sein und sie so gehen lassen, wie sie gelebt haben – gemeinsam.  

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EIN MAGISCHER SCHATZ

Es war einmal … auf einer Wiese nahe bei einem Wald, am Fuß eines Berges, unweit von dem Ort, an dem du vielleicht gerade sitzt. Über diese Wiese mit all ihren farbenprächtigen Blüten schwebte ein Schmetterlingsmädchen im Sonnenschein ihrer Wege, als sie einen Schneckenjungen erspähte, der etwas in ihr wachrief. Augenblicklich fühlte sie sich magisch angezogen von diesem Wesen, das so anders und doch irgendwie ähnlich war. Auch der Schneckenjunge spürte eine für ihn unerklärliche Verbindung zu dem Schmetterlingsmädchen. Zwischen den Beiden schien ein unsichtbares Band von Tag zu Tag stärker zu werden, auch wenn die eine in den Wolken schwebte und der andere mit seinem Häuschen am Boden verankert blieb.

Die Zeit verging. Das Schmetterlingsmädchen wäre nur allzu gerne mit dem Schneckenjungen über die Wiese geflogen, weit über den Horizont hinaus, voller Leichtigkeit und Lebensfreude. Doch der Schneckenjunge war nicht aus seinem Häuschen zu locken, was auch immer sie versuchte.

Eines Tages landete das Schmetterlingsmädchen direkt vor dem Häuschen des Schneckenjungen und forderte ihn auf, mit ihr zu kommen. Sein Schweigen war eine Antwort, die sie nicht einfach auf sich beruhen lassen wollte. Nach einigen bohrenden Fragen drangen zögerliche Worte aus dem Schneckenhaus.

„Ich kann den Schutz meines Hauses nicht aufgeben. Zu oft wurde ich verletzt, zu viel Schmerz musste ich durch andere erleiden. Zu groß ist die Furcht, diesen Schmerz erneut zu erleben.“

Es war eine leise Stimme, die aus einem Herzen drang, das wohl schon einige Wunden erlitten hatte. Seufzend blickte das Schmetterlingsmädchen auf ihre bunten, an einigen Stellen zerfransten Flügel, die von so manchem schlimmen Erlebnis zeugten.

„Wie gut ich dich verstehe,“ antwortete sie ebenso leise. Gleichzeitig spürte sie, dass dies nicht seine einzige Antwort auf ihre Frage war.

„Ich fürchte auch, dich zu verlieren, wenn ich weiterhin im Schutz meines Hauses bleibe, was mir auch großen Schmerz bereiten wird. Was auch immer ich tue, ich kann dem Schmerz nicht entkommen.“

Nur mit Mühe konnte das Schmetterlingsmädchen ihre Tränen zurückhalten, so sehr berührten sie die Worte, die Zerrissenheit, die aus der Verzweiflung entstand, keinen gangbaren Weg zu sehen, nur den dunklen Abgrund. Wie viele Verletzungen konnte ein Herz ertragen, bevor es endgültig zerbrach? Vielleicht wäre die nächste jene? Wer konnte ihm seine Angst verübeln?

Wie gelähmt verharrte der Schneckenjunge in seinem schutzbietenden Häuschen, während das Schmetterlingsmädchen nachdenklich davorsaß und keinen Rat wusste.

Nach einer Weile sagte der Schneckenjunge traurig: „Du hältst mich jetzt sicher für feige.“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte das Schmetterlingsmädchen sanftmütig. Die Milde ihrer Worte ließ ihn aufhorchen.

„Hast du denn keine Angst vor dem Schmerz?“

„Nein,“ antwortete sie gelassen.

„Wieso nicht?“

Das Schmetterlingsmädchen atmete tief durch und begann zu erzählen: „Das Leben hat mir so manche Verletzung zugefügt, doch in meinem Herzen hüte ich einen Schatz, der all diese Wunden geheilt hat und auch jene heilen wird, die vielleicht noch kommen werden. Ich fürchte die Verletzung nicht, weil ich weiß, sie wird nicht von Dauer sein.“

„Was ist das für ein Schatz?“ fragte der neugierig gewordene Schneckenjunge zaghaft.

„Liebe“, flüsterte das Schmetterlingsmädchen und ihre Augen begannen zu leuchten, ihre Stimme wurde mit jedem Wort kräftiger, „Liebe zu mir selbst, zum Leben, wie es ist, zu allem was mich umgibt. Liebe, die nichts braucht und nichts verlangt, die durch nichts begründet ist, außer durch sich selbst. Liebe ist jener magische Schatz, der mich die Verwundbarkeit der Berührbarkeit mit einem Lächeln dankbar annehmen lässt, in dem Wissen, das eben jene Liebe mich beschützen wird, besser als jedes Haus es auf Dauer könnte.“

Nach dieser Offenbarung wurde es still. Nur das leise Rauschen des Windes in den Baumkronen war zu hören, das helle Zirpen der Grillen und Zikaden im grünen Gras. Die Zeit schien zum Stillstand gekommen. Nichts geschah. Oder vielleicht doch? Im Eingang des Häuschens regte sich etwas. Jemand kam zum Vorschein, der all seinen Mut zusammen genommen hatte für diesen Schritt, all sein Vertrauen in eine Welt, die ihn oft genug enttäuscht hatte. Jemand, der endlich sein selbstgewähltes Gefängnis verlassen und frei von Furcht sein wollte. Jemand, der ein anderer war, als er vorgegeben hatte.

Das Schmetterlingsmädchen staunte, aber irgendwie hatte sie es längst auch geahnt.

„Du bist also doch kein Schneckenjunge“, stellte sie lächelnd fest.

„Nein“, erwiderte ein Raupenjunge verlegen, „aber ich hab halt keine Flügel wie du.“

„Noch nicht“, ergänzte das Schmetterlingsmädchen augenzwinkernd.

An diesem Abend zog sich der Raupenjunge nicht wie üblich in sein geborgtes Schneckenhaus zurück, sondern baute sich ein neues, vorübergehendes Heim, einen Kokon, in dem er längere Zeit schlief, ganz für sich allein, abgeschottet von allen Ablenkungen des Lebens, ohne Erwartungen des Außen erfüllen zu müssen, völlig in sich selbst versunken, alles nochmals zu betrachten, was bisher geschehen war, es neu zu bewerten und zu transformieren, dabei in sich jenen Schatz zu entdecken, der jede Wunde zu heilen vermochte: Liebe.

Als sich der Kokon wieder öffnete und ein Schmetterlingsjunge zum Vorschein kam, wartete das Schmetterlingsmädchen bereits auf ihn. Vorsichtig spannte er seine noch ungewohnten Flügel, spürte erstmals den Wind, der sich in ihnen fing und ihn emporhob, hoch hinauf in den blauen Himmel über der Wiese mit all ihren farbenprächtigen Blüten. Mit sanften Flügelschlägen näherte sich das Schmetterlingsmädchen, lächelte, als er ihre Hand ergriff, und sie beide getragen von einer lauen Sommerbrise in ein neues Leben tanzten, voller Leichtigkeit und Lebensfreude. Schmetterlinge eben. Und wenn sie nicht gestorben sind …

… dann besteht eine realistische Chance, ihnen irgendwo auf einer Wiese zu begegnen. Schau dich mal um, vielleicht entdeckst du zwei tanzende Schmetterlinge, die in ihren Herzen einen magischen Schatz hüten: Liebe.

Gewidmet allen „emotionalen Schmetterlingskindern“, deren stark ausgeprägte Empfindsamkeit sie emotional verletzlich macht wie die Flügel eines Schmetterlings. Manche nennen sie auch hoch-sensitiv.

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LIEBE IST … UND NOCH VIEL MEHR

Der Valentinstag steht vor der Tür. DIE Gelegenheit für ein paar Gedanken rund um ein Thema, das wie kaum ein anderes die Menschen beschäftigt: LIEBE

Ob romantische Liebe oder platonische, die Liebe zu einem höheren Wesen, den eigenen Kindern oder dem nächsten Menschen, der Natur und allem, was in ihr lebt, die Liebe zur Kunst, zum Sport, zu was auch immer … diese Liste könnte noch lange fortgeführt werden. Unbeantwortet bleibt die Frage: Was ist Liebe eigentlich?

Die Psychologie findet weitaus pragmatischere Erklärungen für dieses Phänomen als die hinterfragende Philosophie – was wenig verwundert. Spiritualität fügt eine weitere Dimension hinzu. Die Biologie sollte auch nicht außer Acht gelassen werden. Doch wer hat Recht? Vielleicht haben es alle – und keiner. Vielleicht ist Liebe ein Mysterium, das nicht enträtselt werden will.

Liebe kann das Leben ungeheuer kompliziert machen – und auch ganz einfach.

Liebe kann ein Feuerwerk an Emotionen auslösen – und ein Gefühl sein, das alle anderen überstrahlt.

Liebe scheint manchmal unerklärlich – und fühlt sich doch richtig an.

Liebe macht uns verwundbar – und berührbar.

Liebe könnte ein Schlüssel zur Rettung der Menschheit sein, sie könnte Kriege und Umweltzerstörung beenden, uns jene Wege beschreiten lassen, die nötig sind.

Wer liebt, hat stets das Wohl des anderen im Sinn.

Liebe kann aus vollem Herzen geteilt werden, ohne sich je zu erschöpfen. Im Gegenteil, sie wird mehr, je mehr wir davon weitergeben.

Liebe dich selbst … dies ist der erste Schritt.

Wie du deinen nächsten liebst … denn du kannst nur geben, was du in dir trägst.

Liebe braucht keine PR-Agenturen, keine Marketing-Strategien oder photoshop-optimierte Bilder … sie begnügt sich mit Menschen, die mit offenen Herzen hinaus gehen in diese Welt und ihrem Nächsten ein Lächeln schenken, ein freundliches Wort, eine Umarmung, etwas ohne Zweck, doch mit viel Sinn, das nichts kostet, und genau deshalb so wertvoll ist: LIEBE

Liebe ist … und noch viel mehr.

Für alle, die so wie ich mit einer romantischen Ader geboren wurden, hier eines meiner Gedichte, das von Liebe inspiriert wurde und wunderbar zum Valentinstag passt:

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Guten Morgen, mein Herz

Zart streifen mich die frühen Sonnenstrahlen dieses Morgens,
holen mich in die Realität eines neuen Tages voller Möglichkeiten.
Mein erster Gedanke eilt lächelnd zu dir.
Welches Wunder dir wohl heute begegnen wird?
Vielleicht wird es ein kleiner Schmetterling sein,
farbenprächtig schillernd im hellen Licht des Tages,
der sich auf deiner Schulter niederlässt,
und dir leise ins Ohr flüstert:

„Öffne dein Herz und lausche meinen Worten.
Halt nicht fest, was auf deiner Seele lastet.
Lass es ziehen mit dem Wind, der jene dunklen Wolken über uns mit sich nimmt,
den Himmel weitet für das strahlende Blau und das wärmende Licht der Sonne.

Öffne dein Herz und lausche meinen Worten.
Schaffe Raum für das Wunderbare, das auf dich wartet,
da draußen in den Weiten der zu entdeckenden Welt,
die so viele sein kann und dabei stets das wird, was du in dir erwartest.

Öffne dein Herz und lausche meinen Worten.
Nimm an, was der Zufall dir schenkt,
in dem Wissen, das jeder noch so langen Nacht ein neuer Morgen folgt,
so wie dieser, an dem ich mich auf deiner Schulter niederlasse.

Öffne dein Herz und lausche meinen Worten.
Reise mit mir auf den Schwingen des Windes,
voller Leichtigkeit und Lebensfreude auf einem Sonnenstrahl,
von der Morgenröte bis zum Sonnenuntergang und darüber hinaus.

Öffne dein Herz und lausche meinen Worten.
erkenne das Wunderbare, das dir seine Hand entgegenstreckt,
in all den kleinen Gesten und Dingen, die dir begegnen,
und fühle, dass es dir bestimmt ist, vom Leben umarmt zu sein.

Öffne dein Herz und lausche meinen Worten“,
so spricht der kleine Schmetterling und schließt für einen Augenblick seine Flügel.
Als er sie erneut entfaltet, legen sie sich gleich einem schützenden Mantel um deine Schultern,
hüllen dich ein und tragen dich voller Leichtigkeit und Lebensfreude durch diesen Tag,
bis zum Sonnenuntergang und darüber hinaus.
Guten Morgen, mein Herz.

© Lesley B. Strong 2022

GESPRENGTE KETTEN

Zugegeben, ein etwas theatralischer Titel. Aber als ich heute mit meinem Fahrrad aus der Tiefgarage hinausstrampeln wollte, gab es einen lauten Knall und im nächsten Moment drehten sich die Pedale durch. Kette gerissen. Oder eben gesprengt durch meinen kraftvollen Tritt die Steigung hinauf. Ärgerlich.

Eigentlich wollte ich an diesem vielleicht letzten sonnigen Wochenende mit lauen Temperaturen ins Stadtzentrum radeln und dort in einem der Gastgärten etwas essen. Daraus wurde nun ein halbstündiger Fußmarsch. Auch in Ordnung. Mit etwas Verspätung erreichte ich also mein Ziel.

Nach dem Essen schlug ich einen anderen Weg ein als zuvor. Ohne Fahrrad bot sich die Gelegenheit, den Hügel im Kurpark hochzusteigen und am Hang entlang nachhause zu spazieren. Zwar bin ich diesen Weg seit einigen Jahren nicht mehr gegangen, aber immerhin lebe ich seit mehr als 20 Jahren in dieser Stadt, bin hier zur Schule gegangen … ich dachte tatsächlich, ich kenne mich aus. Welch ein Irrtum! Den Weg, den ich eigentlich gehen wollte, verpasste ich offensichtlich. Stattdessen landete ich auf einem mir völlig unbekannten Weg. Beim Schild „4,8 km bis zur Ruine Rauhenstein“ dachte ich mir noch: „So ein Blödsinn. Das sind doch nie 4,8 km.“ Noch so ein Irrtum. Die Streckenangabe war schon korrekt. Nur war ich auf einem mir fremden Pfad gelandet. Einem sehr schönen Pfad, der alles bot, was meine inneren Batterien aufzuladen vermag.

Ursprünglich wollte ich mit dem Fahrrad über den Radweg und später ein Stück Straße nach Hause fahren. Nun wanderte ich über einen sonnendurchfluteten Waldweg, hoch über den Dächern der Stadt und entdeckte dabei eine äußerst anregende Alternative, um von A nach B zu gelangen und dabei in meinen eigenen Rhythmus zurückzufinden. Überaus erfreulich.

Die gesprengte Fahrradkette sprengte auch meine „Kette an tradierten Abläufen“. Meine Alltagsroutine. Ohne diesen „Unfall“ wäre ich mit ziemlicher Sicherheit am heutigen Tag nicht von meinem gewohnten Weg abgewichen und mir wäre etwas verborgen geblieben, das mich zum Lächeln gebracht, mein Herz erfreut und meine Seele mit Licht geflutet hat … oder anders gesagt: mir wäre möglicherweise ein langer Spaziergang in der Umarmung des Lebens entgangen. Damit ich diese Gelegenheit nicht versäume, hat das Schicksal mir wohl einen kleinen Schubs – oder eine gesprengte Kette – verpasst. Und das gleich in mehreren Bereichen, denn einmal mehr wurde mir bewusst, wie viel sich noch im scheinbar Bekannten versteckt. Wie viel entgeht uns tagtäglich, wenn wir uns nur innerhalb der Routine und auf gewohnten Pfaden bewegen? Wie gut kennen wir den Platz, an dem wir leben? Wie gut die Menschen, die um uns sind? Wie gut uns selbst? Wie viel könnten wir noch entdecken, wenn wir ab und zu unsere Ketten der Gewohnheit sprengen und in Neuland aufbrechen?

Viele Fragen, einladende Gedanken, wertvolle Momente im Einklang mit mir selbst … und all das Dank einer gesprengten Kette. Ich verneige mich vor der Weisheit des Lebens, die mich neuerlich daran erinnert: „Bewerte Ereignisse nicht, bevor sie nicht ihr verborgenes Potenzial offenbart haben.“

Lesley B. Strong © 2021

METAMORPHOSE

Dieser Begriff steht für Umwandlung oder Verwandlung. Er trifft wie kaum ein anderer auf mich zu – samt dem häufig verwendeten Symbol des Schmetterlings.

War ich nicht einst ein Getriebene? Rastlos, ruhelos, durch das Leben irrend.

Wurde ich nicht zur Suchenden, die sich mit einer kleinen Laterne bewussten Denkens auf den Weg machte, sich selbst zu finden?

Erreichte ich nicht jenen Punkt, an dem ich mich bei mir selbst angekommen fühlte.

Wurde ich nicht zu der, die heute wie ein bunter Schmetterling durchs Leben tanzt?

Die Phasen meiner Verwandlung. Oder besser: Rückwandlung zu dem, was ich „davor“ war, bevor das Drehbuch meines Lebens einige Umwälzungen vorsah.

Tief in mir bin ich die, die ich immer war, heute bin und immer sein werde: ein feuriger Funken Lebensfreude – mein Lieblingsmantra 😊

Könnte ich glaubhaft abstreiten, dies erreicht zu haben, wenn ich heute tänzelnd durch einen Raum voller fremder Menschen schwebe, meiner eigenen inneren Melodie folgend und es mir piepschnurzegal ist, was andere dabei über mich denken.

Pure innere Freiheit.

Einfach nur ich sein.

Und dazu passt wunderbar diese tänzelnde Geschichte, die in meinem 5. Buch mit dem Titel „EMBRACE – Fühle die Umarmung des Lebens 2“ erschienen ist. Viel Freude beim Lesen.

Ein tanzender Schmetterling

Es war einmal ein kleines Mädchen, das inmitten seiner Familie ein behütetes Leben in einem Dorf am Lande führte. Die Kleine hatte alles, was sie brauchte und lebte frei von Sorgen. Wenn Musik erklang, liebte sie es, ihre Arme auszubreiten, sich in den Rhythmus der Melodie fallen zu lassen und wie ein in der Luft tanzender Schmetterling herumzuwirbeln, dabei ihre Augen zu schließen und einfach nur lebendig zu sein in diesem Augenblick der Unbeschwertheit. Ihr Lachen war im ganzen Haus und auch noch im Garten zu hören. Manche würden es pure Lebensfreude nennen, was die Kleine in diesen Momenten ausstrahlte.

Eines Tages fand in diesem Dort ein großes Fest statt. Nahezu alle Bewohner des Dorfes feierten gemeinsam von morgen an bis spät in die Nacht. Auch die Familie des kleinen Mädchens und alle ihre Verwandten nahmen daran teil. Die Kleine tobte ausgelassen herum. Bereits nach kurzer Zeit wirbelte sie gemeinsam mit einem kleinen Jungen durch das Festzelt, der etwas behäbig versuchte, es dem tanzenden Schmetterling gleichzutun. Die Verwandten des kleinen Mädchens und auch ihre eigene Familie amüsierten sich wortreich und lautstark über das unbändige Temperament der Kleinen, die plötzlich innehielt. Sie konnte nicht verstehen, warum all jene Menschen, die sie kannte, nun über sie lachten, sie gar verspotteten. War es denn nicht in Ordnung, seine Freude zu zeigen? Was hatte sie falsch gemacht? Sie schämte sich, auch wenn sie nicht genau wusste, wofür. Es tat weh, ausgelacht zu werden. Tränen fühlten die Augen der Kleinen. Ein brennender Schmerz bohrte sich tief in ihr junges Herz und sie schwor sich, dass niemand sie jemals wieder tanzen sehen würde. Nie wieder wollte sie diese Schmach über sich ergehen lassen, nie wieder sich verletzt fühlen, nie wieder ihre Gefühle jenen zeigen, die darüber spotteten.

Von diesem Tag an verwandelte sich die Welt der Kleinen. Über all die bunten Farben, die sie zuvor wahrnehmen konnte, legte sich ein diffuser grauer Schleier, wie ein Nebel, der selbst im Licht der Sonne nicht weichen wollte. Ihre Welt wurde stumpf, fahl, freudlos.

Die Jahre vergingen. Das kleine Mädchen wurde erwachsen und blieb seinem Schwur treu. Nie wieder sah jemand sie tanzen. Ihre Familie war längst nicht mehr rund um sie, doch sie hatte das Vertrauen in jegliche Menschen verloren. Selbst wenn die Musik ihre Füße verführen und auf das Parkett locken wollte, widerstand sie dem Drang, unterdrückte den Wunsch, blieb in ihrer starren Haltung. Zu groß war die Angst vor neuerlich Schmähung, zu präsent die Erinnerung an den Spott und der Schmerz, der damit einherging. Ihre Welt war noch immer stumpf, fahl, freudlos.

An einem sonnigen Tag im Frühsommer spazierte die nunmehr junge Frau durch einen Park. Rund um sie waren unzählige Blumen und Bäume, die allesamt farblos auf sie wirkten, viele Schattierungen von grau, kein Vergleich zu den Farben, die sie als kleines Kind wahrnehmen konnte, damals, davor …

Seufzend setzte sie sich auf eine hölzerne Parkbank. Sie wusste, was sie aufgegeben hatte, was sie tief in sich unterdrückte, doch die Furcht vor neuerlichem Schmerz in ihr war groß, so groß, dass selbst der Schmerz, der durch diese Unterdrückung hervorgerufen wurde, ihr dagegen gering erschien. So saß sie da, in Gedanken versunken, einsam in ihrem Herzen, als ein kleiner bunter Schmetterling sich auf ihrer Hand niederließ. Langsam klappte er seine Flügel auf und zu. Die junge Frau betrachtete schweigend die farbigen Schuppen auf seinen fragilen Flügeln, die prächtig im Sonnenlicht schimmerten. Eine Erinnerung kehrte zurück, ein Gefühl erfasste sie, als eine leise Stimme an ihr Ohr drang:

„Worauf wartest du noch? Tanz mit mir!“

Mit erschrockenem Blick sah sich die junge Frau um, doch niemand war in ihrer Nähe. Erst in einiger Entfernung hatten sich ein paar junge Leute auf einer Decke im Gras niedergelassen, andere auf Parkbänken oder manche spazierten ihrer Wege. Niemand war ihr nahe genug, um diese Worte zu sprechen, niemand außer … einem kleinen bunten Schmetterling?

„Tanz mit mir!“

Wieder hörte sie die Stimme, doch kamen die Worte wirklich von außerhalb? Oder aus ihrem Herzen?

Der Schmetterling flatterte hoch, flog nur ein Stück voraus und schien dann zu warten. Zögernd erhob sich die junge Frau von der Parkbank, ging ein paar Schritte über das gräulich wirkende Gras. Ihr Herz schlug aufgeregt. In sich spürte sie einen Impuls, einen unbändigen Drang, etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr verspürt hatte. Angst schnürte ihr den Hals zu. Sie schloss ihre Augen und drückte die Tränen zurück. Sie hatte es sich geschworen: nie wieder! Doch ihre Füße wurden unruhig. Ihr Atem wurde heftiger. Sie presste die Lippen aufeinander.

„Lass uns tanzen. Komm!“

Verdammt, dachte sie bei sich, was soll das? Während sie bereits die Schuhe von ihren Füßen streifte, schüttelte sie immer noch den Kopf über sich selbst. Was würden sich alle die Menschen rundum denken?

„Vergiss die Menschen. Wenn du tanzen willst, dann tanze.“

Unter ihren Zehen konnte sie das von der Sonne erwärmte trockene Gras spüren, das an manchen Stellen leicht pikste. Wie vertraut, wie in ihrer Kindheit …

In der sanften Brise, die ihr Haar erfasste, schwang eine Melodie mit. Ihre Füße wurden unruhiger. Sie konnte sie kaum noch im Zaum halten. Nie wieder will ich sehen müssen, wie jemand mich auslacht oder verspottet, sagte sie zu sich selbst.

„Dann schließ deine Augen. Blick nicht mit deinen Augen nach außen auf die anderen. Blick mit deinem Herzen nach innen, zu dir und dem, was in dir ist.“

Mit einem tiefen Atemzug schloss die junge Frau ihre Augen, verharrte einige Zeit, fühlte die Sonne, auf ihren Kopf und ihren Schultern, die sanfte Wärme, die sich wie ein flauschiges Tuch um sie legte. Sie fühlte den Wind, der mit ihren Haaren spielte. Sie fühlte das vertraute Gras unter sich, den Rücken von Mutter Erde, an den sie sich immer anlehnte konnte. Der Duft von Jasmin strömte von den Sträuchern am Rande der Wiese bis zu ihr, als die junge Frau ganz langsam ihre Arme ausbreitete, mit jedem Atemzug höher und weiter. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, überließ ihre Haare dem Wind und sich selbst der Melodie, die aus ihrem Herzen heraus durch sie hindurch in diese Welt strömte, schenkte ihren Füßen jene Freiheit, die sie ihnen so lange verwehrt hatte: sie begann zu tanzen, zu lachen, zu leben – und aus ihrem Herzen entsprang wieder jenes Gefühl, welches manche wohl pure Lebensfreude nennen würden.

Schließlich öffnete die junge Frau ihre Augen und staunte, denn um sie erstrahlte die Welt wieder in jenen Farben, die längst nur mehr eine Erinnerung aus weit entfernten Kindheitstagen gewesen waren. Blüten bunter als jeder Malkasten sie erschaffen könnte. Leuchtendes Grün unter ihren Füßen und ein strahlend blauer Himmel über ihr. Der Nebel war verschwunden. Nur manche Menschen wirkten noch grau und fahl, doch das lag wohl an dem, was sie in ihren Herzen trugen. Für die junge Frau war die Welt wieder zu jener geworden, die sie zuvor gewesen war, unbeschwert, voller Leichtigkeit und Lebensfreude.

Wenn Du demnächst in den Park gehst, wird Dir vielleicht eine junge Frau begegnen, die barfuß im grünen Gras tanzt zu jener Melodie, die sie in ihrem Herzen hört und die von Lebensfreude kündigt. Vielleicht wirst Du auch selbst diese Frau sein, wer weiß?

© Lesley B. Strong 2021

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DAS BUCHSTABENSUPPEN-ORAKEL

So lautet der Titel einer Kurzgeschichte aus meinem Buch EMBRACE Band 2. Gelesen von Silke Siegel lädt die Story zu einer 8-Minuten-Pause vom Alltag ein. Reinhören, Abschalten, Durchatmen, Lächeln …


zum Podcast

Auf dem Podcast WASLIESTDIEDA? von Silke Siegel findet ihr zahlreiche andere spannende Geschichten. Gönnt euch doch hin und wieder eine unterhaltsame Pause.

7 DAYS LATER …

Ein mystischer Zeitraum. Wurde nicht angeblich die Welt in 7 Tagen erschaffen? Meine eigene Welt (oder Bubble) wurde definitiv in den vergangenen 7 Tagen (neu) erschaffen.

7 Tage allein an einem Ort, an dem ich zu zweit über viele Jahre glückliche Urlaube verbracht habe – wenngleich auch nicht als die Vollversion von mir.

7 Tage allein auf vertrauten Pfaden.

7 Tage kontinuierlich auf mich selbst zurückgeworfen. Wer bin ich? Was will ich? Was tut mir gut? … in diesem Augenblick und grundsätzlich im Leben.

7 Tage der Begegnung mit mir selbst in chilliger Spa-Atmosphäre und auf steilen Bergpfaden.

Was hat sich getan?

Enorm viel. Genug, um ein Buch darüber zu schreiben. Oder es in die wenigen Zeilen von zwei Gedichten zu packen, die während dieser Begegnungen entstanden sind. Hier nun – in einer für mich eher unüblichen Sprache – eine Stimme, die ich in mir höre, wenn ich mir allein da draußen begegne:

Da ob’n

Da ob’n am Berg,
da merkst’s erst, wie klan das’d bist,
siechst vülles plötzlich anders
ois drunten im Tal.
San’d Probleme riesengroß,
druck’n di de Surg’n,
wiargt di de Ongst,
oda wüsst oafach wos loslass’n,
pack’s eini in an Rucksock
und geh auffi.
Wirst seh’n, mit jed’m Schritt wird’s leichta,
und aufamoal waßt wieda, worauf’s aukummt im Leb’n:
Zeig, was‘d fühlst,
all denen, di da wichtig san,
verschenk dei Herz heit,
woard net auf’s Murg’n.
Host Ongst zu leb’n?
Schau auf den kloan Schmetterling,
der da ob‘n um a Dottablum’n tonzt,
glei neban wülden Wossa,
kloan und zerbrechlich inmitt’n ana Wölt,
fü di a ned gschoffn scheint,
oba sei Herz is stoark,
und so spüld a mit’n Wind.
Host valernt zu leb’n?
Donn geh so loang, bis dei Kopf leer is,
koan Denken mehr,
bis di wieda gspiarst,
bei dia selba ankummst in Rua.

Bei mia

Wohin’st a gehst im Leb’n,
Du begegnst da imma söwa.
Was siagst, wannst zu mia kummst?
Brida im Sein, de di stumm begleit‘n?
Tausend Bliah in ana buntn Summawiesn?
A wüds Wossa rauscht toalwärts wi dei Bluad.
Herst mei Stimm – oda des Echo von deina?
Schloagt frei dei Herz noch longa Zeit?
Gspiarst dei Söhl, di längst scho schreit
noch an Moment des Innehoiltens,
noch Luft zum Otmen,
noch Leb’n zum Gspiarn,
Triffst di söwa
hia bei mia
in da Stüll,
wei i sog net vüll.
I umorm di oafach mit all’m was i hob,
weust zu mia zruckkehrst wi a Kind
des sein Weg valurn
und jetzt hamgfunden hot
bei mia.

Endlos könnte ich rational theoretisieren, doch die ganze Tragweite dieser Worte wird nur verstehen, wer sie mit dem Herzen liest.

7 days later … für jeden einzelnen davon bin ich dankbar, für jede Tränen, jedes Lachen, jeden Augenblick des Staunens, für alles, denn es brachte mich alles näher zu mir.

Am 7. Tage beschenkte mich das Leben mit einem unvergesslichen Moment an diesem traumhaft schönen (und eiskalten) Bergsee. Ein Geschenk, das mit einem mehr als 3-stündigen sehr steilen Aufstieg verdient werden wollte, doch das war es wert… wie diese 7 Tage nur mit mir selbst.

Bild & Text: © Lesley B. Strong

Eine zauberhafte Masche

oder

Eine [nicht] ganz alltägliche Weihnachtsgeschichte „In the Middle of Nowhere“

Der gefrorene Schnee knirschte unter jedem seiner Schritte, die ihn eilig vom Parkplatz wegführten, vorbei an einige in der Dämmerung nur noch schemenhaft erkennbaren Bäumen Richtung des Gasthauses „In the Middle of Nowhere“. Allein der Name sagte alles über den Ort, an dem er gelandet war. Unzählige Orte hatte er während seiner vielen Reisen gesehen, dies war einer mehr auf einer langen Liste.

Es war kalt. Ungewöhnlich kalt für Anfang Dezember. Die kalte Luft fühlte sich in seinem Gesicht an wie unzählige Nadelstiche. Fröstelnd zog der Händler die Schulter hoch und beschleunigte seinen Gang. Eiskalt. Eisiger Hauch in Form kleiner nebliger Wölkchen begleitete jeden Atemzug auf seinem Weg, doch es war nicht nur die eisige Kälte rundum, die sich wie ein unerwünschter Mantel aus Blei auf seine Schultern legte. Da war noch mehr, worüber er schwieg, und was der Händler niemals einem anderen erzählen würde.

Endlich war er an dem Gasthaus angelegt und trat ein. Ein dampfender Schwall überhitzter Luft traf ihn unmittelbar beim Durchschreiten der Schwelle. Die rustikale Stube war voller Menschen, lärmender Stimmen und unzähliger Worte, die sich in einer Melange aus Gesprächen mit scheppernden Tellern, zu lauter Musik und nicht zuordenbarem Gelächter vermischte. Irgendwo am Rande konnte er noch das Knistern brennender Holzscheite in einem Bollerofen wahrnehmen, den warmen Schein der Flammen hinter der Glasscheibe. Wärme. Ersehnte Wärme, doch sie war nicht das Einzige, was er suchte. Da war noch mehr, worüber er schwieg, und was er auch an diesem hereinbrechenden Abend an diesem Ort der Durchreise für sich behalten würde.

Der Händler hatte einen langen Weg hinter sich, war müde und hungrig. Die Schlüssel für sein reserviertes Zimmer in Händen haltend stand er nach einigen Minuten erneut in der Gaststube. Alle Tische waren besetzt, so setzte er sich auf einen der Hocker an dem Tresen und bestellte etwas zu essen. Während er wartete, blickte er sich um. In dieser Gegend gab es nicht viele Möglichkeiten zu nächtigen, daher war der Andrang kaum verwunderlich. Die meisten schienen in kleineren oder auch größeren Gruppen unterwegs zu sein. Kaum jemand saß allein – so wie er. Niemand schenkte ihm großartig Beachtung. Der Händler war nur einer unter vielen Reisenden, und so wandte er sich schließlich dem dampfenden Teller zu, den die Wirtin soeben vor ihm auf den Tresen abgestellt hatte.

Während er die heiße, intensiv nach Wald duftende Pilzsuppe löffelte, konnte er kaum vermeiden, das Gespräch mitanzuhören, dass drei Männer direkt neben ihm am Tresen führten. Diese schienen geistreichen Getränken offenbar bereits lebhaft zugetan an diesem Abend. Ihre Gestik wirkte überbordend und ihre Stimmen beschwipst. Sie lachten laut und viel, obwohl ihre Gesprächsthemen vom Händler als nicht sonderlich erheiternd empfunden wurden, weshalb er bestmöglich versuchte, all dies nicht wahrzunehmen und sich in das Display seines Smartphones vertiefte, auch wenn es dort nichts Interessantes zu finden gab, es lenkte ihn vom Rundum ab – bis plötzlich eine Socke auf eben jenem Display zu liegen kam. Der Händler blickte auf und in das Gesicht eines unrasierten Mannes, mit roter Nase und noch röteren, glasigen Augen, der herzhaft lachte und sich dabei ungelenk für das Missgeschick entschuldigte, das beim Hantieren mit einer Papiertüte und einem Paar Socken entstanden war.

„Stell dir vor, das hat sie mir geschenkt: Socken! Als ob ich keine Socken hätte“, mokierte der offensichtlich Angetrunkene sinngemäß in weniger wohlgesonnenen Worten, die zweite Socke voller Geringschätzung über dem Tresen schwenkend.

Der Händler betrachtete das, was vor ihm gelandet war: eine selbstgestrickte Socke in quietschbuntem Design. Vielleicht ein wenig zu bunt für einen erwachsenen Mann, aber so lebendig, so einzigartig und unverwechselbar, dass er sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.

Auf das fragende und etwas rüpelhafte „Was?“ des offenbar unzufriedenen Besitzers der Socke entgegnete der Händler: „Ich denke, da hat jemand viel Zeit und Arbeit investiert, um dir dieses Geschenk machen zu können.“

Daraufhin herrschte kurzzeitig Schweigen zwischen den Männern am Tresen inmitten der Geräuschkulisse der Gaststube. Danach brach der Angetrunkene in schallendes Gelächter aus, klopfte sich mit den Händen auf seine Schenkel und schüttelte den Kopf.

„Wenn du auf so was stehst, du kannst sie haben. Ich schenk‘ sie dir.“

„Nein danke“, erwiderte der Händler ruhig und legte den Löffel beiseite, den sein Teller war mittlerweile leer. „Diese Socken wurden für dich gemacht. Sie würden mir nicht passen.“

Dann wandte er sich von den drei Männern ab, schob den Teller an den hinteren Rand des Tresens und deutete der Wirtin seinen Wunsch zu zahlen. Die hämischen Worte der anderen ignorierend, agierte er mit Bedacht, doch auch mit verdeckter Hast, denn da war noch mehr, worüber er schwieg, und was er nicht zeigen wollte. Er beneidete insgeheim diesen Trunkenbold um das, was sich hinter diesem nur scheinbar banalen Geschenk verbarg: die Aufmerksamkeit eines anderen Herzens.

Nachdem der Händler seine Rechnung beglichen hatte, stand er vom Tresen auf und machte ein paar Schritte in die noch immer übervolle Gaststube. Einerseits wollte er sich noch nicht auf sein Zimmer zurückziehen, andererseits schien hier auch kein passender Platz für ihn. Während er sinnierend im Raum stand, holte ihn eine freundliche Stimme aus seinen Gedanken:

„Vergiss den Kerl. Manchmal bekommen die Falschen ein Geschenk vom Leben, das sie nicht zu schätzen wissen. Das ist zwar schade, aber nicht zu ändern. Hier ist noch Platz. Magst du dich setzen?“

Hinter einem großformatigen Block tauchte das Gesicht einer Frau auf, deren Augen mehr lächelten als ihr Mund. Sie lehnte mit ihrem Rücken am dunkelblauen Kachelofen, der seine wohlige Wärme unerkennbar bis weit in die Stube ausstrahlte. Dennoch schien es dem Händler, als würde auch von dieser Frau eine Form von Wärme ausgehen, und so folgte er gerne ihrer Einladung. Sie schob ein gestreiftes Sitzkissen in seine Richtung und er setzte sich neben sie auf die knarrende Holzbank.

„Was machst du hier?“ erkundigte sie sich.

„Ich bin auf der Durchreise.“

„Sind wir das nicht alle … irgendwie“, erwiderte die Frau kryptisch, die sich als Portraitzeichnerin zu erkennen gab. Rund um sie hingen an der Wand einige ihrer Werke. Fein ausgeführte, detailreiche Studien von Gesichtern, die das Leben gezeichnet hatte – im doppelten Wortsinn. Auch jetzt glitt ihre Hand flink über den Skizzenblock, führte sicher hier einen Strich und dort eine Schraffierung aus. Der Händler folgte interessiert ihrem Tun.

„Und was hat dich hierhergeführt?“

„Ich verdiene mir mit den Zeichnungen ein kleines Zubrot. Wenn die Gaststube voll ist, findet sich meistens Kundschaft. Und wenn nicht, übe ich einfach ein wenig.“

Sie lächelte, und ihr Lächeln war eines, das ein Herz erwärmen konnte.

An diesem Abend saßen der Händler und die Portraitzeichnerin noch lange an den Kachelofen gelehnt in der Gaststube, die sich von Stunde zu Stunde leerte, bis nur noch die Beiden und die Wirtin übrig waren. Sie unterhielten sich über ferne Länder, über Wunder, die sich erblickt hatten, über Rätsel, die noch der Lösung harrten, über das Leben, das sie hierhergeführt hatte. Wohl niemand hätte vermutet, dass sie einander eben erst kennengelernt hatten, so vertraut wirkten sie nebeneinander, stimmig im Tun und Denken. Leider endete dieser Abend mit der Sperrstunde.

Als der Händler schließlich sein Zimmer betrat, hielt er in seinen Händen einen Bogen Papier, auf dem sein Gesicht zu erkennen war. Die Portraitzeichnerin hatte das Blatt signiert und auch ihre Telefonnummer dazugeschrieben, für den Fall, das er noch Änderungen wünschte. Er betrachtete das Werk noch einige Zeit, bevor er es sorgsam zusammenrollte, mit einem Gummiband fixierte und ordentlich in seinem Koffer verstaute. Seine Gedanken und Gefühle in dieser Nacht waren nicht so einfach zu ordnen. Er lag noch lange wach, denn da war noch mehr, worüber er schwieg, weil er es sich selbst nicht erklären konnte.

Am nächsten Morgen setzte der Händler seinen Weg fort, ohne die Portraitzeichnerin noch einmal getroffen zu haben. Mit jedem Tag führte ihn seine Reise weiter fort von dem Gasthaus „In the Middle of nowhere“, doch seine Gedanken kehrten täglich dorthin zurück, wenn er den Bogen Papier zur Hand nahm und die Zeichnung darauf betrachtete. Es waren nur Striche, Linien und Schraffierungen, unverkennbar sein Gesicht, dennoch – da war noch mehr, was die Portraitzeichnerin erfasst und festgehalten hatte. Facetten seiner selbst, die niemand außer ihm kennen konnte. In ihrer Zeichnung fand er, was er der Welt zeigte – und was er vor ihr verbarg. Dass sie ihn auf diese Weise wahrzunehmen vermochte, irritierte den Händler zutiefst. Auch wenn er den Wunsch verspürte, sie wiederzusehen, so zögerte er doch, sie anzurufen, denn er fürchtete, dass da etwas war, das sie nicht auf selbe Weise erwidern würde. Zu viele Wunden aus der Vergangenheit, die noch immer schmerzten, hielten ihn davon ab, jenen Schritt zu wagen, den er ersehnte und gleichzeitig mehr als alles andere fürchtete.

Wenige Tage vor Weihnachten schlug der Händler einen Umweg ein, um noch einmal zum Gasthaus „In the Middle of nowhere“ zu fahren. Er wusste selbst nicht so genau, was er dort zu finden erhoffte, doch etwas ließ ihn nicht zu Ruhe kommen. Als er die Stube betrat, fiel sein Blick sofort auf den Platz am dunkelblauen Kachelofen, an dem die Portraitzeichnerin zuletzt gesessen hatte. Der Platz war leer. Seine Hoffnung wich einem Gefühl der Schwere, des Bedauerns, das er mit einer großen Portion Pragmatismus im Sinne „ist wohl besser so“ zur Seite schob. Dennoch nahm der Händler wieder an der Stelle Platz, an der er auch an diesem Abend vor einigen Wochen gesessen war, auf dem gestreiften Kissen, mit dem Rücken an der warmen Seitenfront des Kachelofens lehnend. Die Wirtin kam mit der Speisekarte, die aus einem einzelnen laminierten Blatt bestand. Der Händler winkte ab und bestellte nur die Pilzsuppe, die er zuletzt gegessen hatte.

Wenige Minuten später kehrte die Wirtin mit einem Teller dampfender, nach Wald duftender Suppe zurück – und einer kleinen Schachtel. Beides stellte sie vor dem Reisenden auf den Tisch und meinte, das Paket sei für ihn deponiert worden. Der Händler runzelte die Stirn. Wer sollte für ihn hier ein Paket deponieren? In the Middle of nowhere? Verwundert griff er danach. Es war schlichter, grauer Karton, verschlossen mit ein paar transparenten Klebestreifen, nicht sonderlich schwer, und wenn er die Schachtel schüttelte, war kein Geräusch darin zu hören. Der Händler schob den Teller Suppe etwas beiseite und begann, vorsichtig die Klebestreifen zu lösen. Dann nahm er den oberen Teil der Schachtel ab. Weißliches Seidenpapier kam zum Vorschein, dass er raschelnd entfaltete und darunter ein paar handgestrickte Socken entdeckte, die er staunend aus der Verpackung holte. Kunterbunt waren sie mit einem eigenwilligen Muster, angenehm weich, alles andere als perfekt, denn einige Maschen schienen nicht ganz ins Muster zu passen, doch genau das machte sie einzigartig, und mit Gewissheit hatte jemand viele Stunden damit verbracht, Masche für Masche aneinander zu reihen, um dieses Geschenk zu erschaffen … für ihn. Fassungslos schüttelte der Händler seinen Kopf.

Doch da war noch mehr. Am Boden der Schachtel lag ein gefaltetes Blatt Papier, auf dem stand in wunderschöner verspielter Handschrift: „Manchmal bekommen die Richtigen ein Geschenk vom Leben, das sie auch zu schätzen wissen. Denk an mich, wenn du sie trägst, so wie ich an dich gedacht habe, als ich daran gearbeitet habe. Frohe Weihnachten.“

Der Händler schloss die Augen, denn da war etwas, das er allmählich zu begreifen begann. Eine vage Hoffnung war dagewesen, eine diffuse Ahnung, doch es hatte dieser zauberhaften Masche eines einzigartigen Geschenks bedurft, um dieses ungewisse Etwas – die Aufmerksamkeit eines anderen Herzens – für ihn fassbar zu machen, derer er sich nun bewusst wurde, als er sein Smartphone ergriff und jene Nummer wählte, die er vor Wochen bereits gespeichert hatte.

© Lesley B. Strong 2020