LEBENSKRAFT

Vor wenigen Tagen teilte ich eine Zitrone in zwei Hälften, um den Saft auszupressen. Die Schnittflächen waren ohne Kerne, doch als ich eine der beiden Hälften ausgepresst hatte, blieb etwas in der Saftpresse zurück: ein Kern. Kein gewöhnlicher Kern. Ein Kern samt Wurzel und Trieb. Genau genommen ein Zitronenbaum im absoluten Anfangsstadium seines Lebens. Dieser Winzling war Anlass, ein wenig über das Leben zu philosophieren.

Welch Kraft doch in einem Samenkern schlummert.

Es wird wohl niemand erstaunen, dass ich den Mini-Zitronenbaum nicht im Biomüll entsorgen konnte, sondern ein erstes Zuhause in einem Blumentopf für ihn fand. Möge er wachsen und gedeihen. So wie jene Eichel, die ich im vergangenen Herbst im Wald fand, die mich zu einer Kurzgeschichte inspirierte, und die ich anschließend in die Erde steckte. Mittlerweile ist sie zu einer stattlichen Eiche von rund 30 cm Höhe herangewachsen.

Ich habe schon so einiges eingepflanzt in meinem Leben. Jedes Mal staune ich aufs Neue, wie viel Lebenskraft in ganz wenig Biomasse zu schlummern vermag. Welche Wege das Leben findet, um Neues hervorzubringen, an unzugänglichen Stellen, unter widrigsten Bedingungen. Da hängen mächtige Fichten in beinahe senkrechten Felswänden, blühende Wegwarten zwängen sich durch den Spalt zwischen Fahrbahn und Bordstein, oder eben Mini-Zitronenbäumchen.

Für mich sind das alles Offenbarungen unbändiger Lebenskraft. Aus dem, was vorhanden ist, wird das Bestmögliche gemacht.

Wieviel Lebenskraft steckt in uns Menschen?

Wenn ich auf Menschen treffe, die über ihr Leben und alles, was dazu gehört, klagen (und das sind ganz schön viele), dann frage ich mich, ob diese Menschen schon einmal wahrgenommen haben, mit wie wenig andere (Menschen, Tiere und Pflanzen) in dieser Welt gedeihen und sich entfalten können?

Wieviel braucht es aus dem Außen, und wie viel (Lebenskraft) aus dem Inneren, um zu wachsen, zu gedeihen, aufzublühen? Ist nicht alles, was es dafür braucht, bereits von Beginn an in uns vorhanden – so wie der vollständige Bauplan für einen Zitronenbaum in jenem kleinen Kern?

Einmal mehr frage ich mich, ob es nicht der Blick nach Innen ist, der uns groß und stark werden lässt. Die Rückbesinnung auf das, was uns mitgegeben wurde und das Bestmögliche daraus zu machen.

In meinem Fall gehört zum Startpaket die Gabe, in den banalen Dingen des Alltäglichen die Zusammenhänge des Großen Ganzen zu entdecken. Auf meiner Fensterbank steht nun ein weiterer Blumentopf und ich bin gespannt, welche Blüten die Lebenskraft des Zitronenkerns hervorbringen wird.

DER ATEM DES LEBENS – POST COVID

I am back 😊 Zwei Wochen nach meiner Covid-Erkrankung bin ich zwar körperlich noch angeschlagen, aber immerhin innerlich wieder halbwegs im Gleichgewicht. Einmal abgesehen davon, dass ich auf die physische C-Erfahrung gerne verzichtet hätte, die mentale war auch nicht ohne.

Die emotionale Achterbahn drehte einige Runden mit mir. Ob als Nebeneffekt der Infektion oder als Begleiterscheinung des „Eingesperrt-seins“ der Quarantäne, oder beiden … who knows? Auf jeden Fall wurde mir neuerlich bewusst, wie wichtig meine Zeiten draußen in der Natur für mich sind, weit ab von anderen Menschen.

Dass dieses temporäre „Eingesperrt-sein“ just mit dem 2. Jahrestag der „aus dem Nichts kommenden Trennung“ zusammenfiel, ist schon einer dieser eigenartigen Zufälle im Leben. Immerhin waren 24 Monate genau der Zeitraum, den ich mir für die Verarbeitung einer 24 Jahre dauernden Beziehungen vorgenommen hatte. Danach wollte ich frei und voller Energie in mein neues Leben starten – aber nicht hustend und schnaufend in Quarantäne sitzen.

Wenn einem die Luft wegbleibt, das Atmen schwerfällt, dann bleibt viel Zeit zum Nachdenken und Einfühlen in das, was gerade da ist. Also lag ich schnaufend und frierend unter zwei Decken bei über 30 Grad plus vor der Haustür, erlebte Wut, Frustration, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in überraschender Intensität. Für all das gab es keine Auslöser in meiner Realität. Okay, eine Covid-Infektion, aber solche Emotionen? Durchheulte Nächte? Kann Covid sich auf die Psyche auswirken? Diese Frage hätte ich lieber mal nicht gegoogelt, denn die Suchergebnisse sind erschreckend zahlreich und wenig aufbauend. Tab wieder geschlossen. Manchmal ist ein langer, kurzatmiger Spaziergang durch den Wald die klügere Option als eine umfangreiche Recherche.

Der Atem des Lebens.

Damit befasste ich mich gedanklich, mit dem Atem, der derzeit weniger kraftvoll als vor Covid durch meinen Körper fließt, was aber nur eine Frage der Zeit ist. Geduld ist angesagt. Mein Körper wird sich vollständig erholen, davon bin ich überzeugt. Die Zeit dafür muss ich ihm allerdings geben.

Der Atem des Lebens.

Ist es tatsächlich nur die Luft, die durch unsere Lungen strömt? Oder geht’s dabei um mehr als um eine adäquate Sauerstoff-Stickstoff-Mischung? Luft konnte ich auch während der Quarantäne in meinem Zimmer atmen. Sogar Frischluft durch das geöffnete Fenster oder auf dem Balkon. Aber diese Luft verschaffte mir nicht das Gefühl des „Durchatems“, dass ein kurzer Spaziergang durch den Wald mit sich brachte. Neben dem Gefühl, wieder lebendig zu sein, kamen auch wieder andere Gedanken und Gefühle in meinen Fokus.

Der Atem des Lebens.

Für mich gehört viel mehr dazu, als nur 4N2O2 plus CO2 und ein paar Edelgase, um vom Atem des Lebens zu sprechen. Durchatmen kann ich an einem Ort, an dem ich mich mit dem Leben verbunden fühle. Die Lunge gilt als ein Organ (ebenso wie die Haut), über das wir direkt mit der Umwelt in Berührung kommen. Die Lunge ist ein Berührungspunkt mit dem Leben, Außen trifft auf Innen. Vielleicht ist mein Innen noch nicht bereit, sich ganz dem Außen zu öffnen und drosselt deshalb den Austausch? Bin ich bereit, mit meinem neuen Leben zu starten? Interessante Fragen, auf die ich noch keine Antwort gefunden habe, aber ich denke, allein mich damit zu befassen, eröffnet neue Horizonte. So wie diesen…

Heute Morgen begegnete mir dieser kleine Schmetterling. Seine Flügel sind viel zu zerbrechlich für diese Welt, wie das Herz mancher Menschen. Eigentlich müsste er seine Flügel hinter einer dicken Mauer verbergen, um sie zu schützen, doch stattdessen entfaltet er sie, denn er weiß, nur mit geöffneten Flügeln kann er fliegen und lebendig sein.

Manchmal fühlte ich mich wie eine Art emotionales Schmetterlingskind. Viel zu empfindsam für diese Welt. Doch ich weiß, ich kann nur dann fliegen und lebendig sein, wenn ich meine Flügel – und mein Herz – öffne…

… und mich selbst dem Atem des Lebens.

SEELENZEIT

Seit einer Woche sitze ich fernab meines Alltags in „the middle of nowhere“ in Griechenland. Kein Massentourismus weit und breit, dafür umso mehr Natur, Ruhe, kaum Menschen … wundervoll.

Die ersten Tage habe ich fast durchgängig geschlafen. Stressabbau pur. Danach startete der kreative Motor im Modus „so viel, wie Spaß macht“. D.h. 2-3 Stunden täglich an Band 3 von JAN/A arbeiten (was eine intensive Zeit mit mir selbst und die Auseinandersetzung mit meinen verbliebenen Baustellen bedeutet), und die restliche Zeit verbummeln. Am Strand sitzen und die Wellen beobachten, die unablässig gegen die Bucht branden, Muster im endlosen Blau erkennen und wieder verwerfen, weil doch alles anders ist, wenn man sich nur lange genug Zeit nimmt, die Entwicklungen zu verfolgen – wie überall im Leben. Wie schnell werden da oft Schlüsse gezogen, die sich später als verfrüht herausstellen?

Für mich bedeuten die Tage hier pure Seelenzeit. Einfach nur ich sein. Keine Erwartungshaltungen von irgendjemand erfüllen. Uneingeschränkt ich sein. Eine Energietankstelle der Sonderklasse.

Vor einigen Jahren war es für mich unverstellbar, tagelang nichts zu tun. Ich wurde bereits nach wenigen Stunden unruhig, brauchte Beschäftigung. Damals tobte in mir ein Krieg, unterdrückte ich Teile von mir selbst, die heftig aufbegehrten und ihr Recht auf Leben einforderten. Permanente Beschäftigung übertönte, womit ich mich nicht beschäftigen wollte – mit mir selbst.

In einer Zeit epidemisch grassierendem Narzissmus mag das seltsam klingen, vielleicht sogar widersprüchlich, beschäftigen sich doch so viele nahezu ausschließlich mit sich selbst. Wie sich noch besser darstellen? Wie das optimale Selfie hinbekommen? Wo sich blicken lassen? Was als nächstes posten? Als ob es die Welt interessieren würde, wer wann was wo gegessen hat.

Mein „mit mir selbst beschäftigen“ hat absolut nichts mit (narzisstischem) Selbstdarstellertum zu tun. Für mich geht es um den Blick nach innen, mich selbst von dem unterscheiden lernen, was ich während meiner Kindheit von anderen übernommen oder draufgedrückt bekommen habe. Man könnte es auch als Vergangenheitsaufarbeitung sowie Auflösung von Verstrickungen, Traumatisierungen, negativen Erfahrungen, Glaubenssätzen und dergleichen bezeichnen. Oder als Entdeckungsreise in das Reich schlummernder Potenziale in mir. Was wartet noch in mir, freudvoll in dieses Leben zu kommen?

Vor einem Jahr war keine Rede davon, dass ich je einen Charity-Bild-Gedichtband in österreichischer Mundart veröffentlichen würde. Heute ist dieses Buch überall erhältlich und bereitet Menschen Freude. Eines meiner verborgenen Potenziale hat sich entfaltet.

Unter den Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen gibt es eine Gruppe, die aufgrund von diversen Studien ein hohes Risiko für eine Demenzerkrankung bei jenen Menschen gegeben sieht, die ihre inneren Baustellen zeitlebens ignorieren. Eine Lebensaufarbeitungstherapie rechtzeitig durchgeführt gilt ihnen als wertvolle Prophylaxe, um bis ins hohe Alter geistig fit zu bleiben. Einige Fälle in meinem Umfeld untermauern diese Theorie.

Eine spezielle Lebensaufarbeitungstherapie steht bei mir derzeit nicht auf dem Programm. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit mir selbst, mit Auflösung und Aussöhnung. Das ich heute stundenlang gelassen an einem Strand sitzen und die Wellen beobachten kann, zeigt mir, wie viel ich bereits erreicht habe. Ich könnte nicht 365 Tage im Jahr am Meer sitzen und Wellen beobachten, dafür bin ich viel zu gerne aktiv, kreativ und in Bewegung. Aber ich kann die für mich frei gewählte Seelenzeit genießen, dadurch einen Ausgleich zu meinem Alltag schaffen. Ich kann in der Ruhe verweilen, weil ich mir nicht länger ein Krieg tobt, keine offenen Gräben klaffen, sondern Brücken gebaut wurden, sich in mir wieder umarmt, was von den Ereignissen des Lebens auseinandergerissen worden war. Anders formuliert: ich bin mit mir selbst im Reinen.

Wenn mir heute inmitten der Ruhe nach Bewegung ist, spaziere ich ein Stück über den Strand, sammle bunte Steine, verweile völlig im Hier und Jetzt, in der Unendlichkeit eines Augenblicks, in dem ich ganz ich selbst bin. Seelenzeit.

Bild: pixabay.com