Die Sonne hat sich längst über den Horizont erhoben, aber
die Dunkelheit will nicht weichen – nicht aus meinem Fühlen. Nicht aus meiner
Seele? Die Welt rund um mich ist in Ordnung. Ich lege im Bett, werde von dem
Mann im Arm gehalten, denn ich liebe und der mich liebt. Ich weiß, dass ich in
Sicherheit bin, geborgen und dennoch – die Dunkelheit haftet wie ein Schatten
auf mir, ein Schatten, den kein Sonnenlicht zu bannen vermag. Ist das die
Wahrheit? Für mich? Oder gibt es eine andere Wahrheit? Was ist Wahrheit
überhaupt? Die Tränen, die in meinen Augen brennen? Der Schmerz, der mein Herz
zu verschlingen droht? Die Angst, die jedes Wort unterdrückt, das davon
erzählen möchte. Die Gewissheit, dass niemand verstehen kann, was die
Dunkelheit für mich bedeutet?
Die Dunkelheit. Sie ist eine Heimat, in die ich gestoßen
wurde. Hätte ich sie für mich erwählt? Niemals! Und doch kann ich sie nicht
loslassen, nicht vollständig ziehen lassen. Halte ich sie? Oder sie mich? Oder
sind wir einfach untrennbar verbunden?
Sag mir, Dunkelheit, wer bist du? Was bist du? Was hält dich
in meinem Leben? Warum ziehst du nicht weiter? Längst hast du den Schrecken für
mich verloren, einzig der Schmerz blieb. Warum lässt du mich nicht zur Ruhe
kommen? Was ist in dir? Wie lange habe ich gegen dich gekämpft – erfolglos. Fast
magisch bindet es mich an dich, das Unbekannte – oder Vertraute? Vergessene?
Was werde ich finden, wenn ich mich in dich fallen lasse?
In die tiefste Dunkelheit will eintauchen, auf den Grund
jenes bodenlosen Sees hinabsinken, der meiner Seele gleicht.
Schwerelos im Nichts verweilen.
Fühlen ohne Grenzen, denn wir sind eins, der See und ich.
Verharren in der Ewigkeit des Augenblicks, einem Atemzug,
einen Herzschlag.
Meine Gedanken aufgelöst in vollkommener Stille.
Die Augen schließen.
Sehen – was jedem Blick verborgen bleibt
Berühren – was keine Hand je berühren kann
Hören – jene Stimme, die in mir klingt und doch keine Worte
kennt
Annehmen – was nicht zu verstehen ist
Fühlen – was du bist, immer warst und immer sein wirst
Meine Zuflucht, in der ich Schutz fand. Jene Heimat, in der
das feurige Herz des Dämons leben durfte und bis heute lebt.
Kann ich dich ziehen lassen? Dich verlassen? Will ich es?
Was würde ich verlieren? Dich? Mich selbst? Den Schmerz? Ist der Schmerz Teil
von dir? Oder von mir? Oder nur eine Illusion, an die mein Geist sich klammert
– aus Furcht vor dem, was du bist? Oder ich? Oder dem, was sein könnte?
Ich will nicht mehr kämpfen. Nicht gegen dich. Nicht gegen
mich. Ich will leben!
Eine Schwingung durchzieht den See und mich. Musik.
Verspielte Töne aus einer anderen Welt, voller Leichtigkeit. Farben gesellen
sich zu dem Reigen. Bunt. Vielfältig. Mehr als ein Regenbogen zeigen kann,
schillernd wie die Flügel eines Schmetterlings im Sonnenlicht, das mich von
innen heraus durchstrahlt. Ein Gefühl, das mich erfasst, geboren in einem
feurigen Herzen, das sich entfaltet in der grenzenlosen Freiheit und
bedingungslose Umarmung der Dunkelheit.
Der Schmerz wird zu Nebel, der von jenem See emporsteigt, dessen
Oberfläche nun wie blaugrüne Seide schimmert. Aus Nebel werden Wolken. Aus
Gedanken wird Wind, der die Wolken vertreibt, bis da nur noch das Licht der
Sonne am strahlendblauen Himmel ist, das dem See seine Farbe und Tiefe
verleiht.
Was wäre das Licht ohne die Dunkelheit? Was die Oberfläche
unter die Unendlichkeit darunter?
Kämpfen? Oder umarmen?
Leiden? Oder lieben?
Leben!
Diese „Eigen-Intervention“ habe ich heute Morgen in Echtzeit geschrieben. Ich wusste zu Beginn nur, dass am Ende alles gut sein würde, welchen Weg auch immer meine Worte (und damit mein Ich) wählen würde.
Vielleicht sollte ich aufgrund dessen, was ich weiß und kann, heute so weit sein, dass ich derartige Interventionen nicht brauche. Vielleicht sollte ich längst stabil im Zustand der Symptomfreiheit leben. Tu‘ ich aber nicht. Ich funktioniere weder auf Knopfdruck noch innerhalb der Standardnormen unserer Gesellschaft.
Eine Entscheidung für das eine ist immer auch eine Entscheidung gegen vieles andere. Ich habe mich entscheiden. Für mich – und damit gegen alles, was andere meinen, was und wie ich sein sollte, wie ich zu funktionieren habe oder was richtig und falsch für mich ist.
Ich bin ich!