Warum?

In den letzten Monaten wurde ich – vor allem bei Lesungen und anderen Gelegenheiten – öfters gefragt, warum ich das Thema Borderline öffentlich anspreche? Es ist ja nicht so, als würde ich erzählen, ich habe eine Grippe erwischt. Ich spreche offen über Gefühle, Ängste, Schwächen – und ja, in gewisser Weise werde ich dadurch berührbar und verletzbar. Noch dazu in den sozialen Medien, in denen man schnell Ziel eines Shitstorms werden kann; in denen zumeist Oberflächlichkeit den Ton angibt und Tiefgründigkeit eher eine Randerscheinung ist; in denen Likes wichtiger sind als aufrichtiges Interesse; in denen laut Statistiken einem Beitrag nur wenige Sekunden Beachtung gewidmet werden schreibe ich viele Zeilen, deren Botschaft sich erst beim aufmerksamen Lesen entfaltet.

Warum also mache ich es? Warum gehe ich dieses Risiko ein? Warum wende ich die Energie hierfür auf?

In dem ich das Thema für andere aufbereite und das Unbegreifliche in Worte zu fassen versuche, fokussiere ich mich sehr stark auf mich selbst, um meine Wahrnehmungen und Gefühle in allen Nuancen zu reflektieren. Dadurch zentriere ich mich stärker als je zuvor in meinem Leben. Ich verbinde (deshalb: RE/CONNECTED) mich quasi mit mir selbst, bin also das Gegenteil von dem, was ich früher war: (teil)entkoppelt von mir selbst und meinem Gefühlsleben (DIS/CONNECTED). Für mich als Mensch ist das heilsam und fast schon therapeutisch.

Verliere ich diesen Fokus, dann ist es, als würde alles in mir durcheinandergeraten. Ich verliere mich innerhalb und auch meine Abgrenzung nach außen. Dann werde ich zu einer Art Stimmgabel, die mit jeglicher Schwingung aus dem Umfeld in Resonanz geht. Mit positiven Stimmungen ist das durchaus erwünscht, aber mal ehrlich: in wessen Leben überwiegt die schon? Ohne Fokus genügt eine morgendliche Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln, um den Rest des Tages (und weit darüber hinaus) von bedrückenden Gefühlen und düstere Gedanken begleitet zu werden. Ohne Fokus wird aus einer Absage schnell eine Ablehnung, Ausgrenzung, Zurückweisung, Bestätigung dessen, was ich bin … oder früher dachte, dass ich bin. Ich denke, ich muss es an dieser Stelle die destruktiven Gedankengänge nicht weiter ausführen. Die Welt durch die Brille der Dunkelheit wahrzunehmen trübt den Blick auf die tatsächlichen Fakten und erschafft eine negative Bewertung. Was folgt, ist eine Art von Blindheit gegenüber den positiven Dingen und Menschen, die für mich da sind.

Ich bin nicht einzigartig. Ganz im Gegenteil! Ich glaube, nein, ich bin überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die ähnliches erleben. Mein Leben lang habe ich mich unverstanden gefühlt, nie irgendwo angekommen, nirgends zugehörig. Sicher, wie alle anderen auch, war ich in der Schule, in Sportmannschaften, in Arbeitsgruppen und Teams. Ich war zwar dabei, aber irgendwie auch nicht. Bis heute habe ich zuweilen das Gefühl, ein „Alien“ unter Menschen zu sein – auch wenn ich mich heute darüber amüsiere und meinen Frieden damit geschlossen habe, zu sein was ich bin.  Meine Gedanken und Wahrnehmungen unterscheiden sich von denen der meisten Menschen, die ich kenne. Das habe ich schon als Kind festgestellt. Weil die seltsamen Reaktionen aus dem Umfeld darauf unangenehm bis schmerzhaft waren, habe ich aufgehört, anderen meine „Welt“ zu zeigen und stattdessen begonnen, Theater zu spielen … über Jahrzehnte hinweg.

Wenn ich also heute über meine Gedanken und Gefühle schreibe und jemand – vielleicht sogar Du? – liest diese Zeilen und denkt sich: „Hey, die tickt ja genauso wie ich. Ich bin also nicht allein damit.“ … dann sind wir schon zwei. Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch habe ich mich nach jemanden gesehnt, der mich versteht, mit dem ich meine Gedanken teilen kann, ohne ausgelacht oder abgelehnt zu werden. Vielleicht kann ich dieser „Jemand“ heute für Dich sein?

Vor einigen Wochen hat mein Sohn diese Zeilen an mich gerichtet: „Warum? Warum hast du so gehandelt, wie du gehandelt hast? Warum hast du es nicht geschafft, den Borderline-Instinkt des Verheimlichens auch nur für einen Augenblick zu überwinden und mir zu sagen, dass du es verstehst?“ Obwohl ich die Antwort darauf kannte, war es doch schwer, sie zu akzeptieren und zu formulieren. Offenheit bedeutet Verletzlichkeit. Verstandesmäßig hatte ich vieles verdrängt, doch gefühlsmäßig spürte ich immer, dass da etwas in mir war, etwas Unverstandenes, etwas Unerwünschtes. Aus Angst vor neuerlicher Ablehnung verbarg ich mein wahres Wesen und begann zu leiden und zog die Menschen rund um mich in meinen Schmerz hinein.

Ablehnung schmerzt – auch heute noch – doch dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, sich selbst über Jahrzehnte zu verleugnen und zu verraten.

Warum ich über mein Leben als Borderlinerin schreibe?

Weil ich heute die Kraft habe, Ablehnung auszuhalten, denn ich liebe mich, so wie ich bin, mit wirklich allen Facetten! Weil ich hoffe, dass meine Erfahrungen für andere hilfreich sein werden. Weil ich meinen Teil dazu beitragen will, das gängigen Vorurteile und Zuschreibungen zum Thema Borderline zu verändern. Weil ich mir von ganzem Herzen wünsche, dass es irgendwann möglich sein wird, Gedanken und Gefühle in dieser Welt offen auszusprechen und dafür echte Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu bekommen… eben ein Happy End. Ich steh drauf, echt 😉

Endstation Hoffnungslosigkeit oder Ausgangspunkt Abenteuer?

Es war einmal … ein kleines Mädchen, in dessen Leben geschah, was nie geschehen sollte. Menschen taten, was sie niemals tun sollten. Die Zeit verging, und irgendwann war dieses Mädchen zu einer jungen Frau herangewachsen, die nicht so funktionierte, wie sie sollte. Sie erkannte, dass sie anders war, anders dachte, anders fühlte, doch sie versuchte, all dies vor der Welt zu verbergen. Tief in ihrem Innersten war sie einsam, egal wie viele Menschen rund um sie waren. Sie begann zu leiden, leise und im Verborgenen.

Gewiss, es gab auch schöne Momente in ihrem Leben, aber wenn sich der Vorhang gesenkt hatte, blieb sie allein mit der Leere, allein in der Dunkelheit, die nie ganz von ihrer Seite wich. Jene Dunkelheit, die zu ihrem bestimmenden Lebensgefühl geworden war: nie gut genug, nie angekommen, nirgendwo zuhause, Niemandem wirklich nahe, immer suchend und nie findend …

Würde meine Geschichte hier enden, wäre der Titel „Endstation Hoffnungslosigkeit“ wohl perfekt gewählt, doch meine Geschichte endet nicht hier. Genau genommen beginnt sie genau hier, an diesem Punkt. Der „Zufall“ spielte im Oktober 2017 eine Karte aus und ließ mich einen Weg einschlagen, den ich in meinen Träumen seit Kindheit an ersehnt hatte, doch nie wagte, ihn tatsächlich zu beschreiten: ich begann zu schreiben!

Dies löste eine 180 Grad Wende in meinem Leben aus, die ich in meiner Autobiographie DIS/CONNECTED dokumentiert habe.

Hier die Kurzfassung: es brauchte den spekulativen Gedanken „Was, wenn alles anders wäre …?“ und eine 600-seitige Liebesgeschichte, um mich selbst so anzunehmen wie ich nun mal bin und jene Dunkelheit in mir in das zu verwandeln, was sie seither ist. Aus meinem bisherigen Zustand der Entkoppelung (oder disconnected) von Teilen meiner Persönlichkeit und meines Gefühlslebens wechselte ich eine innige Verbundenheit mit mir selbst (reconnected). Aus einem destruktiven Problem wurde für mich ein konstruktives Potenzial. Ich erkannte, dass „Borderline“ für mich eine Münze mit zwei Seiten war: LEIDEN – bedingungslos und grenzenlos – oder LIEBEN. Ich hatte die Wahl – und ich entschied mich zu lieben!

All das, was ich jahrzehntelang erfolglos im Außen gesucht hatte (Liebe, Geborgenheit, Anerkennung), fand ich in dem einzigen Menschen, der immer für mich da war und sein wird: in mir selbst! Ich lernte, mich selbst zu lieben und zu halten – und erkannte, dass vieles längst schon rundum mich vorhanden war, ich hatte es einfach nur nicht wahrnehmen können.

Damit beginnt meine eigentliche Geschichte, die nun den Titel „Ausgangspunkt Abenteuer: ein feuriger Funken Lebensfreude“ trägt und die ich hier in diesem Blog mit dir teilen werde.

ACHTUNG: *spoiler alert* Happy End inklusive