TAGEBUCH MEINES NEUEN LEBENS: Tag 165 … (k)ein Weihnachtsdrama

165 Tage, beinahe ein halbes Jahr, so viel Zeit ist bereits vergangenen, seit ein Tsunami mein über Jahrzehnte sorgsam aufgebautes Leben innerhalb weniger Tage hinwegfegte, um ein Vakuum zu erschaffen, das sich auf wundersame Weise ebenso schnell mit Neuem füllte. Dieser Prozess hielt mich derart auf Trab, dass ich keine Zeit darüber hatte, mir im Vorfeld Gedanken (oder gar Sorgen) darüber zu machen, wie es wohl sein würde, seit Weihnachten allein zu verbringen – jene Zeit des Jahres, die mehr als jede andere mit „heiler Familie“ assoziiert wird – jene Zeit des Jahres, die mehr als jede andere mit „Familiendramen“ assoziiert wird – jene Zeit des Jahres, die ambivalent ist wie kaum eine andere.

Nun ist es so weit. Die perfekte Gelegenheit für eine Reflexion.

Weihnachten 2020. Mein letztes Weihnachten als Single war 1995. Mein Lebenspartner war zwei Wochen vor Weihnachten ausgezogen, ich war schwanger und in einem emotional undefinierbaren Zustand. In all den Jahren, die darauf folgten, wurde Weihnachten – obwohl nicht mehr allein – mehr und mehr zu einem Drama. War es vor 1995 oftmals eine Zeit, in der für wenige Tage alles unter dem Teppich gekehrt wurde, um eine „heile Welt“ um des lieben Friedens willen zu leben, so veränderte es sich ab 1996 dahingehend, dass immer öfter diese „heile Welt“ explodierte und all das Unterdrückte sich auf dramatische Art und Weise Beachtung verschaffte. Weihnachten etablierte sich als Synonym für Krise. Also stornierten wir Weihnachten. Auch ein Weg, dem auszuweichen, was man nicht anschauen will.

Weihnachten 2020. Bis auf den 24.12. mit familiären Verpflichtungen, der nicht ganz einfach war, sehr ruhig. Offenbar kommt es zwangsläufig zu Verletzungen, sobald mindestens drei Personen meiner Kernfamilie aufeinander treffen. Ein trauriger Umstand, aber ich bin nur für meinen Teil verantwortlich, ebenso wie jeder von uns.

Wie auch immer. Seit gestern Abend genieße ich es, für mich allein zu sein und Weihnachten auf meine Weise zu verbringen. Wenn mir danach ist, sende ich Gedanken in diese Welt hinaus, die zum Nachdenken und Fühlen anregen – und freue mich, wenn ich anderen damit für kurze Zeit ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann. Ich freue mich auch, dass es den Menschen, die einen Platz in meinem Herzen haben, gut geht, ganz gleich wo sie sich in diesem Augenblick auf diesem Planeten befinden. Diese tiefe innere Verbindung ist unabhängig von räumlichen Distanzen.

Ich bin allein, weil ich es in diesen Tagen auch sein will, aber ich bin alles andere als einsam.

Weihnachten wird oft als besinnliche Zeit des Jahres tituliert. Besinnung – genau darum geht es für mich. Auf das besinnen, was 2020 alles geschehen ist, innehalten, ordnen, neu ausrichten.

2020 war ein Jahr wie keines zu vor.

Das Corona-Virus hat in der ersten Jahreshälfte umfassende Änderung in meinem Job verursacht – wie wohl bei uns allen. Aber es war nicht der Tsunami. Der kam später.

Am 10. Juli 2020 wachte ich in einer Wohnung auf an der Seite des Mannes, mit dem ich mein halbes Leben verbracht hatte, den ich noch in diesem Jahr heiraten und für immer bei ihm bleiben wollte. Am 15. Juli 2020 legte ich einen Schlüssel in seine Hand und verließ die Wohnung für immer, mit 75 Kartons, die hauptsächlich meine Kleidung, Bücher und Töpfe enthielten. Alles andere ließ ich zurück. Möbel, Auto, … ich gab alles auf, nur nicht mich selbst.

Warum?

Weil diese wenigen Tage mich etwas erkennen ließen, dass ich bereits seit langem gespürt, aber konsequent verdrängt hatte: Dieser Mann liebte nur einen Teil von mir, einen anderen lehnte er konsequent ab und würde es immer tun, weil er diesen Teil (meine Emotionalität) nicht verstehen konnte und es nie würde, denn er fürchtete diese Emotionalität dermaßen, dass er sie unterdrückte, in sich – und in gewisser Weise auch in mir.

Als ich mich mit meinem inneren Dämon Borderline ausgesöhnt und zurück in die Umarmung des Lebens gefunden hatte, schwor ich mir selbst, gut auf mich selbst zu achten und nichts zu tun, dass einer Selbstverletzung gleichkäme. In einer Beziehung zu bleiben, die nur dann Bestand haben konnte, wenn ich kontinuierlich einen Teil von mir selbst unterdrückte, kam für mich einer Selbstverletzung gleich – und so verließ ich mein bequemes Leben innerhalb von wenigen Tagen, ohne zu wissen, wohin oder was mich erwarten würde.   

Die erste große Lektion, die 2020 für mich bereithielt:

Es ist, was es ist

Es gab vieles Schönes, für das ich immer dankbar sein werde, aber letztendlich war es kein Heim, sondern ein goldener Käfig, aus dem der Tsunami mich herausriss und an ein neues Ufer spülte, in ein echtes Heim, in dem ich in diesem Augenblick befinde. Die Wurzeln dieses „Zufalls“ reichen ins Jahr 2019 zurück, als ich begann, für eine liebe Nachbarin, die viel Zeit im Ausland verbringt, die Wohnung zu hüten. Hier fand ich Unterschlupf. Mehr noch, diese Nachbarin bot mir an, mit mir gemeinsam eine „Mädels-WG“ zu gründen. Platz sei ausreichend vorhanden und die Wohnung würde dadurch nicht mehr über Monate leer stehen. So kam es, dass sich zwei unterschiedliche, bewegte Lebenswelten an einem Ort zu überschneiden begannen.

Heute sitze ich in einem alten Rattenlehnstuhl, den ich bereits vor der Geburt meines Sohnes hatte, auf meiner Plüschdecke namens „Eisbärenfell“, auf der sitzend ich bereits JAN/A Band 1 getippt hatte. Meine Beine liegen auf einer Klavierbank, auf der die Tochter meiner Mitbewohnerin Klavier spielen gelernt hatte. Vor mir steht das Sofa, das mein Sohn sich gekauft hatte, als er ausgezogen ist. Neben mir ein Tisch, den wir aus dem Keller reaktiviert hatten. Hinter mir ein altes Kallax-Regal der ersten Generation neben den neuen, die heuer dazukamen. Meine bunte Häkeldecke unter ebenso bunten Ölbildern, die seit langem an den Wänden hängen. Kakteen, die bereits einige Winter auf der Fensterbank verbracht haben, und Orchideen, die eben erst eingezogen sind. All das macht zusammen mein „Heim“, eine bunte Melange vieler Leben und Erinnerungen, zusammengefügt an einem Ort, an dem ich willkommen bin, genauso, wie ich bin. Einem Ort, an dem ich keinen Teil von mir unterdrücken muss, sondern sein darf, wer ich bin.

Und dies ist die zweite große Lektion 2020:

Meine 3 Säulen für ein Verweilen in der Umarmung des Lebens

  1. ICH sein, so wie ich bin. Mich selbst voll und ganz annehmen und zustimmen, das ich bin, wer ich bin.
  2. Ein Plätzchen im Leben, an dem ICH sein darf, so wie ich bin. Dafür braucht es weder Luxus noch Perfektionismus. Willkommen zu sein zählt, nicht auf welchen Möbeln ich sitze.
  3. Menschen (und es genügt ein einziger!), die mich so annehmen, wie ich bin. Die nicht kritisieren oder urteilen, sondern mich auch dann noch lieben, wenn ich mal nicht perfekt funktioniere, mich gerade selbst im Weg stehe oder in meiner Fokussierung auf ein zu lösendes Problem nicht mehr sehe, was links oder rechts ist.

Auf diesen drei Säulen ruht mein Leben, das von den Stürmen 2020 zwar ordentlich durchgeschüttelt wurde, dennoch sitze ich heute hier in Gelassenheit und einer tiefen inneren Ruhe, in der Gewissheit, dass all die Ereignis dieses verrückten Jahres zwar eines „verrückt“ haben in meinem Leben, aber keinesfalls zum Schlechteren. Ganz im Gegenteil. Ich bin noch näher an mich selbst „herangerückt“, an die, die ich bin und auch sein will.

So verbringe ich mein Weihnachten 2020 allein, mit Schmetterlingen im Bauch, die jemand zum Flattern bringt, der gerade ganz wo anders sitze – und auch das passt genau so, wie es ist. Bevor ich mich in ein neues Abenteuer stürze, gilt es zuerst einmal, das alte abzuschließen.

Eine kritische Stimme in mir hinterfragt, ob ich – wie in der Vergangenheit – wieder an einem Fall von „Zweckoptimismus“ laboriere. Zeichne alles schön und lenke damit davon ab, dass du es eigentlich gerne anders hättest, aber das nicht sagen willst … falls dir diese Gedanken bekannt vorkommen, sie sind weitverbreitet. Krampfhaftes positives Denken. Tricky. Eine der vielen Formen von Selbsttäuschung. In meinem Fall schließe ich es diesmal nach eingehender Prüfung aus.

Ich meine es ernst. Mir geht’s gut. Es passt, wie es ist. Kein Weihnachtsdrama. Es ist anders als all die Jahre zuvor. Ein [nicht] ganz alltägliches Weihnachten. Passt perfekt zu mir 😊

#Borderline #BorderlineSolved #Lebensgeschichte #Autobiografie #LebenmitBorderline #Lebensphilosophie #Lebenskonzept #FeelTheEmbraceOfLife #Diversität #ichschreibe #Lebensfreude #anders #LebenimEinklang #BorderlineBlog #freespirit #mentalhealth #motivation #positivesDenken #brainpower #Fühlen #Lebensweisheiten #Achtsamkeit #positivePsychologie #resilienz #weihnachten2020 #weihnachten #bewusstleben #bewusstsein

Bild: pixabay.com

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 25

Wenn ich morgens in meinem neuen Leben und neuem Heim aufwache, fühle ich mich unendlich leer. Etwas fehlt. Etwas, das ich vermisse. Etwas, das ich mir selbst nicht geben kann. Auch wenn ich gelernt habe, mich selbst zu lieben, mich so anzuerkennen, wie ich bin und die Geborgenheit in der Umarmung des Lebens wahrzunehmen – eines kann ich mir selbst nicht geben: die Nähe eines vertrauten Menschen, der die Hälfte meiner bisherigen Lebenszeit an meiner Seite verbracht hat. Mit dem ich so vieles geteilt habe.

Es ist, wie es ist. Unsere Wege haben sich getrennt. Mein Verstand hat es längst realisiert und akzeptiert. Doch Gefühle lassen sich nicht so einfach umschalten. Deshalb bin ich traurig, unkonzentriert, noch immer neben meiner üblichen, hoch effizienten Spur.  Ich verarbeite emotional die Geschehnisse. Das gehört dazu. Kein Grund für Leid oder gar böswillige Gedanken. Einfach nur Trennungsschmerz. Ich habe etwas verloren, das mir ans Herz gewachsen war, das mir lieb und teuer war auf eine Weise, die sich nicht mit Worten beschreiben lässt.

Wie einfach wäre es, mich einfach in eine Depression fallen zu lassen, im Schmerz zu versinken, im Leid zu baden, in der Opferrolle aufzugehen. Von vielen würde ich Trost, Zuspruch und Zuwendung dafür erhalten, weil es doch verständlich wäre, so zu empfinden. Doch so einfach ist es nicht – für mich. Ich sehe nicht nur eine Position, nicht nur ein Ereignis. Aus der Meta-Position heraus offenbart sich mir ein komplexes Bild mit tradierten Rollen und Verhaltensmustern sowie langjährig aufgebaute Verstrickungen.

Schuldzuweisungen? Wer damit anfängt, versagt sich jeglichen Lerneffekt aus Krisen.

Vorwürfe? Erschweren nur den Blick auf die Eigenverantwortung.

Vielleicht ist das, was im Moment schmerzt, auch die Erkenntnis, an welchen Punkten auf unserem gemeinsamen Weg eine andere Handlungsweise zu anderen Ergebnissen geführt und somit den Tag X verhindert hätte. Oder das Wissen um die Unveränderbarkeit der Vergangenheit?

Nicht umsonst heißt es: Im Nachhinein ist man immer klüger.

Der Verstand kann sich schnell mal hinter weisen Sprüchen und Erklärungen zurückziehen und zur Ruhe kommen, doch das Herz bleibt im Sturm der Gefühle zurück.

Es heißt: Zeit heilt alle Wunden.

Das will ich glauben. Ich will daran glauben, dass der Tag kommen wird, an dem ich aufwache, und wieder vertraute Nähe zu einem Menschen fühle, dem ich mein Herz geöffnet habe.

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 21

3 Wochen. So lange braucht ein Hühnerküken, um aus seinem Ei zu schlüpfen. 3 Wochen habe ich gebraucht, um wieder in einem Bett zu schlafen, das ich mein Eigen nenne. Seltsam, wie wichtig mir dieser Punkt ist, im Gegensatz zu vielen anderen, deren Wichtigkeit oder Priorität in diesen 3 Wochen verloren ging. Immer alles aufgeräumt und abgeschlossen? Rechts vor mir lehnen noch ein paar Kartons, deren Inhalt sich erst dann zu einem Schrank zusammenfügen wird, wenn der Rest geliefert wurde. Apropos Rest: Umzugskartons verwahren auch heute noch gut die Hälfte meiner Kleidung, Küchenutensilien, Kosmetikartikel … „angekommen“ ist ein dehnbarer Begriff. Dennoch fühle ich mich bereits zuhause.

Krise gemeistert? Ich würde mal sagen: entschärft. Während ich auf der einen Seite mein Leben um vieles erleichtere, kreisen auf der anderen Seite meine Gedanken um Vergangenheit und Zukunft.

Teilweise bin ich noch immer erstaunt, was ich alles seit Jahrzehnten mit mir rumschleppe in diversen Ordnern und Schachteln. Die Müllabfuhr darf sich freuen. Allerdings taucht auch einiges auf, über das ich mich freue, dass ich längst vergessen hatte und das gleichzeitig genau in die Situation passt. So fand ich zum Beispiel gestern die handschriftlichen Originale einiger Gedichte aus dem Jahr 1996, die ich heuer in EMBRACE veröffentlicht habe. Damals schrieb ich den Tag und die Uhrzeit oben rechts in die Ecke auf den karierten Blättern. Ich hielt den exakten Entstehungszeitpunkt fest und – fast unglaublich, aber wahr – es gibt kaum Korrekturen auf diesen Blättern. Ich schrieb die Gedichte in einem Stück, wie bei einem Diktat. Genau wie heute auch. Ich überarbeite oder korrigiere nur wenig.

In der Vergangenheit entdecke ich neue, alten Facetten von mir, erkenne weitere Zusammenhänge, vertiefe das Verständnis meiner selbst.

Mir wurde klar, dass der Tag X unausweichlich hatte kommen müssen. Tag X symbolisiert das Ende einer Beziehung und den Anfang von etwas Neuem. Aus der Asche erhebt sich der Phönix – eine Metapher, die ich häufig verwende und sie trifft es genau. Veränderung erfordert auch überholtes loszulassen, damit neues entstehen kann. Seit Oktober 2017 habe ich mich verändert. Für den nächsten Schritt war Tag X essenziell. Diesen Tag und seine Ereignisse zu erleben, dabei weder die alleinige Schuld und damit die Täterrolle zu übernehmen noch die Verantwortung abzugeben und mich in die Opferrolle zu flüchten, sondern das Zusammenwirken vieler Faktoren wertfrei anzuerkennen, eröffnet mir einen neuen Blick auf die Welt und mich selbst.

Durch die Fügung des Schicksals lebe ich nun in einer WG mit einer Philosophin. Unser heutiges stundenlanges Gespräch über Eigenverantwortung und wertfreie Betrachtung war vermutlich nur das erste von vielen, die noch folgen werden.  Die Autodidaktin trifft auf die Expertin. Ich hätte irgendwo stranden können, doch ich landete bei einer, von der ich lernen und meinen eigenen Horizont erweitern kann. Welch Fügung des Schicksals.

Soll die Zukunft anders werden als die Vergangenheit, gilt es diese zu verstehen und daraus zu lernen. Ich bin dabei, meine blinden Flecke zu erkunden. Subtile Verhaltensmuster zu identifizieren, die auf den ersten Blick harmlos, auf den zweiten jedoch manipulativ sind. Parallel dazu beginne ich damit, die finale Phase von JAN/A zu schreiben. Ich weiß zwar noch nicht, wie lange ich dafür brauchen werde, aber ich weiß, wenn ich Band 3 von JAN/A fertig habe, wird auch mein eigener Prozess, der im Oktober 2017 begann, abgeschlossen sein.

Zwischendurch frage ich mich immer wieder: Bin ich noch Borderlinerin? Tag X, die Wochen danach, all das ohne emotionale Zusammenbrüche, Depression, Selbstverletzung, Selbsterniedrigung oder sonstige „typische“ Borderline-Symptome. Okay, ein paar Mal lagen meine Nerven blank, reagierte ich gereizt oder emotional, aber in einem Ausmaß, das man als „normal“ in einer Krisensituation einstufen könnte.

Meine Feinfühligkeit und intensive Emotionen sind immer noch da, vielleicht sogar stärker als je zuvor. Ich empfinde Freude, Glück, Schmerz … alles da. Nur eines fehlt: ich leide nicht. Nicht mehr. Vor einigen Wochen verabschiedete ich mich während des Schreibprozesses vom „Leid“. Im Klartext heißt das: ich bin verwundbar, kann Schmerz empfinden, aber ich leide nicht – weder unter einer Wunde noch unter dem Schmerz. Mitgefühl und Mitleid sind zwei sehr unterschiedliche paar Schuhe. Mein Verstand wusste es schon länger, doch nun kann ich es auch fühlen.

Und ich bin dankbar für alles, was geschehen ist. Auch für Tag X. Ich bin weder durchgeknallt noch abgehoben, vielmehr geerdeter denn je zuvor.

Meine komplexe (Borderline-)Persönlichkeit und ich sind im Einvernehmen und gut auf Kurs Richtung Zukunft.

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 19

Angekommen im neuen Zuhause. Da bin ich nun. Vor mir liegt die erste Nacht in meinem neuen Heim. Es stehen zwar noch etliche Kartons im Zimmer. Es fehlt noch da und dort dies und das, unter anderem ein Kleiderschrank, aber auch wenn nicht alles perfekt ist (was es nie sein wird), es spiegelt bereits meine persönliche Note wider und fühlt sich passend an. So weit, so gut.

Ein Teil von mir ist angekommen und freut sich auf das, was vor mir liegt.

Ein anderer Teil von mir ist traurig über das, was geschehen ist.

Und ich bin unbeschreiblich müde. Fast drei Wochen habe ich als Nomadin gelebt. Entwurzelt nach einem Vierteljahrhundert. Ich mag vielleicht geistig sprunghaft und flexibel sein, aber mein Lebensmittelpunkt ist es nicht. Der gleicht mehr einem Redwood Baum. Verpflanzen bekommt uns beiden nicht.

Ohne die Hilfe vieler Freunde und vor allem meines Sohnes, hätte ich sicherlich nicht so schnell wieder Wurzeln schlagen können. Das Gefühl, irgendwo hin zu gehören, ist für mich essenziell. In diesem Augenblick gehöre ich hierher, an diesen Ort, mein neues Zuhause. Ob es so bleiben wird, ist offen. Zu vieles ist noch in Bewegung, in Unruhe. Die Wellen, losgetreten von den Ereignissen um den 11.07., sind zwar abgeflacht, doch keineswegs völlig geglättet.

Für heute bin ich zu müde zum Nachdenken, zu müde zum Planen oder Organisieren. Für heute ist alles getan, was getan werden konnte. Alles andere wird sich morgen zeigen. Für heute will ich einfach nur zur Ruhe kommen und die erste Nacht in meinem neuen Heim in der Umarmung des Lebens verbringen – denn ich fühle mich nach wie vor vom Leben gehalten. Gleich, welches Chaos auch über mich hereingebrochen ist, so vieles hat sich in kurzer Zeit zu guten Lösungen gefügt, dass selbst mein kritischer Verstand resigniert und anerkannt, dass hinter all dem wohl so etwas wie ein Sinn stecken muss. Aber darüber denke ich morgen nach. Heute wird geschlafen. Gute Nacht. 😊

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 17

Heute morgen erhielt dieser Beitrag aus dem letzten Jahr ein Like – und das holte die Geschichte in meine gefühlte Gegenwart. Sie ist 100% autobiographisch.

Wie damit umgehen, diesen Lebensmensch verloren zu haben?

Ich weiß es nicht.

Vielleicht gibt es keine Antwort auf diese Frage. Kein Wissen um das „wie“?

Nach dem Schmerz kommt die Trauer. Irgendwann folgt auch wieder das Lachen. Auch wenn ich es gerne möchte, dieser Prozess lässt sich nicht beschleunigen. Mein Verstand arbeitet schnell, doch meine Gefühle fordern Zeit ein … notwendige, wichtige Zeit.

„Funktionieren“ wird nebensächlich.

Ich bin keine Maschine – werde es nie sein.

Ich bin ein Mensch. Ich fühle, mache Fehler, scheitere … stehe auf und gehe weiter. Vielleicht ein wenig angeschlagen, langsamer, nachdenklicher, verletzlicher … doch ich gehe weiter meinen Weg, lebe mein Leben, verharre im Gefühl der Liebe – zu mir selbst, zum Leben, zu den Menschen… auch zu dem einen, der nun nicht mehr an meiner Seite ist.

Es ist, wie es ist.

Und ich bin, wer ich bin.

Ein feuriger Funken Lebensfreude, der zur Zeit auf Sparflamme brennt, aber keinesfalls erloschen ist 🔥

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 11

Während ich meine Augen schließe, spüre ich dem Gefühl in mir nach. Es wäre so einfach, ließe es sich eindeutig zuordnen. Doch einfach ist in meinem Leben selten etwas – wie in diesem Augenblick. Da ist Traurigkeit, die sich wie ein allumfassender Schleier über die Geschehnisse legt. Ein Hauch von Schmerz, weil es nie soweit hätten kommen dürfen. Zuversicht, jenen Schritt zu gehen, den ich solange verweigert hatte. Erleichterung, weil ich diesen Schritt gegangen war, und tiefes Bedauern, weil ich diesen Schritt gegangen war.

So vieles habe ich zurückgelassen: Dinge, Orte, Menschen, einen ganz besonderen Menschen, jenen, den ich niemals zurücklassen wollte. Unzählige Erinnerungen drängen in mein Bewusstsein, bahnen sich ihren Weg aus jenem Ozean, der unaufhörlich vom Fluss des Lebens gespeist wird. Ein Ozean aus Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen, tief in uns verborgen, unsichtbar für alle jene rundum, intensiv spürbar wie kaum etwas anderes. Ein Ozean der uns – der mich durchdringt, in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug, der mich fühlen lässt, wer ich bin, und was ich verloren habe, was ich freigab in der Hoffnung, es möge irgendwann durch schicksalhafte Strömungen zurück an meine Ufer gespült werden.

Einst hatte ich geschworen zu lieben – und ich liebe noch immer, richte meinen Blick in die Vergangenheit, versuche zu verstehen, Tag für Tag. Loslassen – ohne zu wissen, was zurückkehren wird. Oder ob überhaupt etwas zurückkehren wird. Liebe verschwindet nicht einfach, doch Zweifel kann sie vergiften, die Saat des Misstrauens nähren, deren Triebe sich um Angst und Verletzung ranken.

Weder Geld noch Gold können auch nur ein einziges Wort unausgesprochen machen. Niemand hat die Macht, Geschehenes ungeschehen zu machen. Worauf kann ich hoffen? Auf Verständnis? Vergebung? Versöhnung? Oder ist jede Hoffnung blanke Illusion? Zerbrochenes Glas bleibt zerbrochen. Scherben bleiben Scherben. Und doch ist da ein Licht in meinem Herzen, ein Funke nur, der hoffen will, glauben an das Unwahrscheinliche, vertrauen auf schier Unmögliches. Vermag Liebe jene Wunde zu heilen, die das Leben gerissen hat?

Gedankenverloren spüre ich meinem Atem nach, der durch meinen Körper strömt. Fühle die Schwere in meinem Herzen zurückweichen und das Lächeln, das zaghaft an die Oberfläche dringt, als sich eine vertraute Hand auf meine Schulter legt, als Geborgenheit mich umfängt und ich weiß, dass alles genauso ist, wie es sein soll.

… diese Zeilen schrieb ich am Vorabend. Die diffuse Idee zu einer Kurzgeschichte, die ich irgendwie festhalten wollte. Doch heute denke ich, es war viel mehr als das. Rational habe ich die Ereignisse seit dem 11.07.2020 analysiert, bewertet, verarbeitet, Entscheidungen getroffen und Prozesse in Gang gesetzt, um mein Leben neu auszurichten.

Emotional habe ich mich – um weitermachen zu können – für eine Weile auf Mute geschalten. Als die Nähe zu gegenseitigen Verletzungen und weiter zu Worten und Handlungen führte, die noch mehr Schmerz hervorriefen, sehnte ich mich nach Distanz, um wieder zur Ruhe zu kommen. Nachdem ich nun bereits einige Zeit getrennt und ohne Kontakt bin, fühle ich wieder das, was unterhalb der Verwundungen da war und immer noch da ist: Liebe, der Wunsch nach Nähe, der Wunsch für den anderen da zu sein.

Der Verstand weiß, dass eine Rückkehr zu den etablierten Beziehungsmustern nach einiger Zeit wieder zu Schmerz führen würde. Das Herz sehnt sich nach dem, was zwischen den Verletzungen da war. Meine „Kurzgeschichte“ spiegelt das eindeutig wider. Mein Unterbewusstsein kommuniziert mit meinem Bewusstsein, bringt den Wunsch zum Ausdruck, den mein Verstand als illusorisch abgehakt hat. Ein Viertel Jahrhundert emotionale Verbundenheit löst sich nicht in wenigen Stunden oder Tagen in Nichts auf. Der Schmerz emotionaler Verletzungen kann sich wie ein trübender Schleier darüberlegen, aber darunter bleibt es, was es zuvor war: Liebe.

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 7+8

Tag 7

Endlich geschafft! Sämtliche Kartons sind durchwühlt und sortiert. Phasenweise war es keine leichte Aufgabe, doch es hat sich gelohnt. Es fühlt sich richtig gut an. Mein Leben wurde um vieles erleichtert. Diese wiedergewonnene Leichtigkeit spüre ich auch deutlich in mir und bemerke sie auch in meiner Kommunikation mit anderen.

Nebenbei beginnen die diversen Amtswege, vor allem jene, die sich digital erledigen lassen.

Ich freue mich schon darauf, meine neue Bleibe zu gestalten. Eine WG wird für mich eine völlig neue Erfahrung. Und in zwei Tagen wird hoffentlich auch Gipsy den Weg alles irdischen gehen. Wieder auf meinen beiden Beinen stehen zu können, darauf freue ich mich auch schon sehr. Auf Tom und Jerry kann ich liebend gern dauerhaft verzichten. Um mir die Wartezeit etwas zu versüßen, surfe ich jetzt mal über im Onlineshop eines Möbelhauses. Schließlich brauche ich demnächst ein Bett. Auf dem Sofa meines Sohnes gedenke ich nicht ewig zu residieren.

Tag 8

Ständig werde ich gefragt, wie’s mir geht. Mir geht’s gut! Immer noch oder schon wieder? Ich weiß es nicht. Das Gestalten meines neuen Lebens nimmt meine Aufmerksamkeit in Anspruch, so dass ich wenig bis kaum Zeit dafür habe, in trüben Gedanken zu versinken. Dafür gibt es keinen Grund.

Meine Ex-Partner seit einigen Tagen nicht gesehen oder gesprochen zu haben, hat meine Emotionalität deutlich beruhigt und mich zurückkehren lassen in die Umarmung des Lebens. Ich freue mich darauf, eine Zeitlang nur für mich zu sein. Okay, innerhalb einer WG nur für mich, aber nicht auf eine Beziehung ausgerichtet. Eine Zeitlang nur meine eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und erfüllen zu können. Genau genommen habe ich das zuvor noch nie getan. Zumindest nicht, seit ich mit selbst wiedergefunden haben, als seit Oktober 2017. Alles, was ich tat, passierte immer auch im Abgleich mit den (angenommenen) Erwartungen anderer an mich.

Aus den sozialen Medien habe ich mich vorerst fast vollständig zurückgezogen und gönne mir hier eine kleine Auszeit. Mein Blog läuft zwar weiter, aber darüber hinaus mache ich weder Marketing noch irgendetwas anderes. Die Welt dreht sich auch ohne meinen Input weiter. Ein sehr beruhigender Gedanke.

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 5+6

Endlich wieder einmal richtig gut und erholsam geschlafen. Gestern Abend die letzten Kartons geholt und die offizielle Verabschiedung vom Ex-Partner. Ein paar Tränen waren dabei, aber nicht, weil ich ging, sondern weil die Kluft zwischen uns schmerzlich war. Schließlich begann es einst als Freundschaft, doch davon war scheinbar nichts übriggeblieben.

Ich staune über mich selbst, wie schnell ich diese langjährige Beziehung ablege. All die Jahre davor, wenn das Thema „Trennung“ in der Luft schwebte, drohte ich daran fast zu ersticken, versank in Schmerz und Leid, suchte die Schuld bei mir, verfiel in Selbstanklage und Ablehnung, kroch auf dem Boden (bildlich und wörtlich), um wieder seine Gunst zu gewinnen, ertrug seine offen zur Schau gestellte moralische Überlegenheit … all das nur, um einige Monate später wieder an diesem Punkt zu landen. Ab 2017 begann sich mein Verhalten zu verändern. Ich hörte auf, zu leiden, wenn zwischen uns wieder einmal Funkstille herrschte, blieb stattdessen ruhig und gelassen, während ich auf seine „Rückkehr“ wartete. Keine Selbstentwertung mehr, kein einseitiges Schuldeingeständnis, sondern ein offener Blick für die Zusammenhänge und das Zusammenwirken beider Seiten. Das sehe ich auch heute, und ich sehe die Unvereinbarkeit unserer Positionen, Werte und Interessen. Vielleicht kann ich heute deshalb so leicht und schnell gehen, weil ich schon viele Male an diesem Punkt gestanden habe, ohne den Mut aufzubringen, es zu tun. Die Bequemlichkeit obsiegte. Ich nahm in Kauf, innerhalb der Beziehung nicht ich selbst sein zu dürfen, Teile von mir selbst zu verbergen oder zu unterdrücken, um die Partnerschaft nicht zu gefährden. Doch welche Art von Partnerschaft ist es, wenn man nicht so sein kann, wie man ist? Wenn einer der beiden die Meinung vertritt, am anderen ist etwas „kaputt“, das repariert werden muss, damit die Probleme aus der Beziehung verschwinden?

Probleme in einer Beziehung haben immer mit beiden Seiten zu tun.

Heute sehe ich das, akzeptiere es und handle danach. Ich kann mich nicht länger selbst verleugnen oder unterdrücken. Das ist eine Form der Selbstverletzung, die weithin unbekannt ist, aber um nichts weniger schmerzt als Schnittwunden am Körper. Seelischer Schmerz ist unsichtbar. Genau deshalb ist er so gefährlich, weil die anderen ihn nicht erkennen und nicht eingreifen können. Genau deshalb geschieht manchmal etwas, das scheinbar völlig überraschend kommt, dass niemand erwartet hätte, weil eben niemand in die Seele eines anderen blicken kann.

Monatelang habe ich mich mit subtilen körperlichen Befindlichkeitsstörungen herumgeschlagen. Verspannungen, blockierte Lymphe, Nervenflirren, Muskelzucken … trotz dem Chaos an Umzugskartons, dem emotionalen Stress und Gipsy fühle ich mich körperlicher fitter als vor dem Crash. Ich fühle eine enorme Menge Energie in mir, die gerade freigesetzt wird, und die mich nach vorne blicken und gehen lässt. Durchatmen. Freiheit. Lebensfreude. Vor mir liegt eine Zukunft, die ich selbst nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten werde.

Gemeinsam mit meinem Sohn habe ich rund die Hälfte der Umzugskartons (= mein ganzes Leben) sortiert und bewertet, was bleibt und was gehen darf. Letzteres verschwindet nicht einfach im Müll, sondern wird über Netzwerkkontakte verteilt und kommt diversen sozialen Projekten oder Menschen zu Gute, die dafür Verwendung haben und sich darüber freuen.

Zwischendurch tauchen alte Erinnerungen auf, wenn ich das eine oder andere in die Hand nehme. Tränen. Ein Kloss im Hals. Darf sein. Ist heilsam. Es war nicht alles schlecht. Viele schöne und gute Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre … ein Vierteljahrhundert gemeinsam. Wenn ich mein eigenes Alter bedenke – wer weiß, ob ich je wieder mit einem Menschen so lange in einer Beziehung sein werde. Bedauern im Vorfeld über eine Zukunft, die noch im Unklaren liegt? Weg mit diesen Gedanken. In der Gegenwart gibt es genug zu tun.

Ich lasse los – meine Vergangenheit und alles, was hinderlicher Ballast auf dem Weg in meine Zukunft wäre. Diese Auswirkungen sind auch körperlich erkennbar. Seit letzten Sonntag habe ich mindestens 2 kg verloren. Zumindest bis Mittwoch war es so. Danach machte Gipsy ein Abwiegen obsolet, aber wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich das verschwinden, was in den letzten Monaten beständig mehr geworden war und mich gestört hatte.

Es war definitiv an der Zeit für mich, loszulassen.

Sonntag

Wieder eine neue Erfahrung in meinem neuen Leben: auf einem Schreibtischdrehsessel sitzend die Küche putzen bzw. mit dem Staubsauger durch die Wohnung meines Sohnes zu düsen. Hat schon einen leichten Touch von durchgeknallt. Ich habe meinen Spaß dabei – und den kann ich gut gebrauchen, denn am Nachmittag ging’s an die zweite Hälfte der Kartons. Gegen Abend waren wir damit fertig und mein Leben fein säuberlich auseinanderdividiert – bis auf die Bücher, die folgen am Montag.

Erstaunlich, wieviel sich in den Jahren angesammelt hat, wie wenig mir bewusst war, was ich eigentlich alles besitze, und wie wenig es mit meinem Leben noch zu tun hat. Zeit, um radikal auszumustern. Vieles darf gehen. Loslassen, loslassen, loslassen …

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 4

Dank Gipsy (der Spitzname für meinen Spaltgips) zur (beinahe) Untätigkeit auf dem Sofa verdammt. Organisatorisches kann ich noch per Telefon/Internet erledigen, aber darüber hinaus … nada. Einbeinig duschen mit Müllsack am Fuß als Spritzschutz … oh Mann, nicht das erste Mal, aber das letzte Mal liegt doch schon ein paar Jahre zurück.

Zeit habe ich momentan mehr, als mir lieb ist. Ich würde – wie in der Vergangenheit – gerne einfach proaktiv die Sache angehen, etwas tun, mich ablenken … aber diesmal bin ich dazu verurteilt, zuzuschauen, was geschieht.

Für mich noch immer unglaublich POSITIV ist die vielfältige Unterstützung und Hilfestellung, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Viele Herausforderungen, die sich aus der Situation ergeben, lösen sich fast von allein auf, als würde jemand oder etwas die Steine aus meinem Weg räumen und mich einladen, in mein neues Leben voran zu schreiten … zumindest gedanklich/emotional.

Mir war bis vor wenigen Tagen nicht bewusst, wie viele Menschen für mich da sind, wenn ich Hilfe brauche. Das berührt mich tief und erfüllt mich mit Dankbarkeit. Ich kann nur hoffen, dass ich beides auch angemessen zum Ausdruck bringe.

Deshalb liege ich gerade auf dem Sofa, trockne Gipsy, der beim Duschen heute etwas gelitten hat, reflektiere über die vergangenen Tage und warum ich in dieser völlig verrückten Situation in mir eine unerklärliche Ruhe und Gelassenheit verspüre.

Bin ich total neben der Realität? Ich hätte nicht den Eindruck, kümmere mich um alles, was zu tun ist und blicke auf das, was da ist. Realitätsverweigerung kann es nicht sein.

Emotionaler Schockzustand, der mich entkoppelt? Passt auch nicht. Sicher, es hat extrem weh getan, 24 gemeinsame Jahre innerhalb von wenigen Tagen aufzulösen, aber irgendwie will ein Teil von mir nicht am Alten festhalten, auch wenn vieles davon schön und gut war.

Ich frage mich, wann es begann, auseinander zu driften? Vermutlich im Oktober 2017, als ich zur Reise zu mir selbst aufbrach. Zu Beginn, vor 24 Jahren, hatte ich viele Probleme, suchte und fand einen Beschützer und Versorger. Das hat viele Jahre recht gut funktioniert. Kleine Probleme gab es immer wieder mal, doch die Rollenverteilung blieb aufrecht. Seit 2017 bin ich unabhängig und eigenverantwortlich geworden. Ich brauche keinen Versorger oder Beschützer, weder in väterlicher Form noch als meinen Partner. Das brachte vermutlich die Rollen-Balance ins Kippen. Er ist nach wie vor der Typ Versorger und Beschützer. Ich möchte jedoch einen Partner auf Augenhöhe an meiner Seite, der mir die Verantwortung für mein Leben und meine Probleme überlässt und mir zutraut, dass ich damit klarkomme und wenn nicht, um Hilfe bitte. Genau dieses Thema war der Funke, der am vergangenen Wochenende unsere Beziehung explodieren ließ.

Meine Entwicklung führte mich weg von der gemeinsamen Richtung. Vielleicht fällt es mir deshalb relativ leicht, alles hinter mir zu lassen und in ein neues Leben aufzubrechen. Ich bin nicht abhängig von der Beziehung oder meinem Ex-Partner. Wir hatten unzählige schöne Momente zusammen und ich werde stets mit Wertschätzung an ihn zurückdenken, aber mein Weg geht vorwärts, nicht rückwärts. Was auch immer vor mir liegt, ich bin offen dafür und freue mich darauf.

Vielleicht zeichnete sich all das schon seit längerem ab und ich habe es nicht wahrnehmen wollen. Wenn ich meine Beiträge der letzten 12 Monate betrachte, dann gab es immer wieder das Thema „Beziehungsstress“. Das war nicht neu. Schon in den Jahren davor hatten wir regelmäßige Stressepisoden und kein brauchbares Tool, um diese Konflikte gut zu lösen. Das hätten wir eigentlich am vergangenen Wochenende im Rahmen des Seminars entwickeln wollen. Stattdessen kam es zur finalen Trennung. Vielleicht waren/sind unsere Konflikte nicht zu lösen, weil unsere Positionen zu weit auseinander liegen, um noch die Basis einer Beziehung zu bilden?

Das klingt jetzt alles wieder einmal sehr kopflastig, doch diesmal war das Gefühl da, bevor ich die Worte niederschrieb.

Es mag einige irritieren, aber mir geht es wirklich gut. Traurigkeit ist da, ja, ich lasse immerhin 24 Jahre meines Lebens mit dem Mann, den ich als meinen besten Freund bezeichnet habe, hinter mir. Doch gleichzeitig verspüre ich auch eine große Erleichterung, nicht mehr jeden Satz auf die Goldwaage legen zu müssen, ob ich nun die passenden Worte wähle, die auf Verständnis treffen. Nicht mehr verstecken zu müssen, wenn ich einfach durchs Wohnzimmer tanzen will (sobald Gipsy verabschiedet ist), weil es mir grundlos gut geht, das aber als Überemotionalität verstanden werden könnte.

War das nicht bereits ein Anzeichen? Voller Lebensfreude zu sein und diese „abzuschalten“, sobald der Partner den Raum betritt, weil es für ihn „zu viel“ ist?

Hätte ich unser Auseinanderdriften darin erkennen können, dass mein Partner keines meiner Bücher, Gedichte, Geschichten oder meinen Blog je gelesen hat? Trotz meiner Bitten und Erklärungen, dass er dadurch besser erfassen könne, wer ich bin? War er nicht bereit, sich auf meine Entwicklung einzulassen?

Viele Fragen. Letztendlich führen mich die Antworten zu dem Schluss, dass es gut so ist, wie es ist. Es tut noch weh, aber der Schmerz wird vorüber gehen. Die Freude wir wieder in den Vordergrund rücken. Ich fühle mich trotz dem ganzen Chaos um mich vom Leben umarmt, geborgen und geliebt.

Ich habe alles, was ich brauche: Liebe, Optimismus, Humor … und wirklich tolle Freunde, für die ich von ganzem Herzen dankbar bin.

Tagebuch meines neuen Lebens / Tag 1-3

Als ich am 23.Juli 2019 mit diesem Blog startete, hätte ich nie gedacht, das er knapp ein Jahr später dazu dienen würde, eine Veränderung zu verarbeiten, die mein ganzes Leben auf den Kopf stellt. Dennoch ist es heute so.

Wenn sich 24 Jahre Partnerschaft innerhalb von 48 Stunden in etwas verwandeln, vor dem man nur noch davonlaufen will, fängt man an zu zweifeln… an sich selbst… am Leben… an allem.

Heute ist der 14. Juli 2020 und mein Leben hat sich grundlegend verändert. Das überraschende Ende einer Beziehung nach beinahe 24 Jahren, keine Wohnung mehr, kein Auto… seit gestern bin ich Sofa-Touristin.

Wie es so weit kommen konnte? Eine lange Geschichte, die zu sehr schmerzt, um sie zu erzählen. Es würde sich nichts ändern. Ich blicke nach vorn.

Tag 1 von meinem neuen Leben.

Es tut weh, der Realität ins Auge zu blicken – und ist gleichzeitig befreiend. In meinem Blog habe ich viel über das Leben und Krisen theoretisiert. Jetzt bin ich mittendrin in der Praxis, in der Neuauflage von meinem Leben. Eine Geschichte, die ich in Echtzeit erzählen werde. Ziel: ein Happy end

Tag 2 in meinem neuen Leben

Von 24 Jahren blieben rund 70 Kartons. Die Startrampe in meine Zukunft … ein etwas holpriger Start, den ich einem unaufmerksamen Schritt auf einer Treppe verdanke. Nun ja, es ist schon wieder eine Weile her seit meinem letzten Krankenhaus Abend. Mal schauen, was das Röntgen ergibt. Meine Knochen haben schon so einiges ausgehalten.

Die gute Erinnerung an diesen Tag: echte Freundschaft und Unterstützung von echten Menschen. DANKE

Der Morgen von Tag 3 in meinem neuen Leben

Kurz nach Mitternacht mit einem Spaltgips und Krücken wieder auf dem Übergangssofa einzuziehen … eine sehr ambivalente Erfahrung, die mir hoffentlich ein weiteres Mal erspart bleibt.

Immerhin, erstmals seit letzter Woche mehr als 2 h Schlaf. Ganze 6 h. Luxus pur

Mein Sohn hat auch Recht behalten: ich lerne gerade Alexa zu schätzen, da meine Bewegungsfreiheit doch drastisch eingeschränkt ist. Alexa bringt mir zwar kein Frühstück, aber Licht und Musik.

Meine Gedanken werden auch allmählich ruhiger. 24 gemeinsame Jahre einfach so vorbei. Macht unglaublich traurig, dennoch – es gibt mir auch die Freiheit, über mich selbst nachzudenken und was ich mir von einer Partnerschaft erwarte. Wie ich feststellen musste, ließ meine (positive) Veränderung und Stabilisierung meines Borderline seit 2017 uns auseinanderdriften. Ich bin nun einmal nicht mehr die, die ich vor 24 Jahren war. Das ist eine Tatsache. Wie es aussieht, bin ich auch nicht die Richtige für meinen (Ex?)-Partner (irgendwie komisch, das zum ersten Mal zu schreiben). Das muss ich akzeptieren.

Wie geht’s weiter? Im Moment langsam und auf Krücken, aber es geht weiter. Aufgeben und im Jammertal der Tränen versinken? Nein, danke. Was würde es ändern? Ich habe ausgiebig reflektiert und meine Erkenntnisse daraus gewonnen. Die Traurigkeit wird noch eine Zeit bleiben, aber das ist in Ordnung. Schließlich hat sich die Liebe auf meiner Seite nicht einfach so in Luft aufgelöst. Sie ist noch immer da, aber auch das Bewusstsein, einen Partner an meiner Seite haben zu wollen, der mich als die schätzt, die ich bin, und nicht etwas in mir sieht, was ich einst war oder was in mich reininterpretiert wird.

In diesem Sinne geht’s weiter, Schritt für Schritt auf 2 Krücken …