Wie vor einigen Tagen angekündigt, hier nun die Geschichte, die während meines „ich-bringe-mich-auf-andere-Gedanken“-Spaziergangs entstanden ist:
Es war einmal … ein Baum. Ein ganz besonderer Baum. In mitten von unzähligen Buchen und Eichen, Eschen und Haselnussbüschen, deren Blätterkleid im Laufe des Jahres seine Farben wechselte, stand eine mächtige Schwarzföhre. Anders als viele ihrer Art strebte ihr Stamm nicht gerade in den Himmel empor, sondern teilte sich bereits wenig oberhalb des von Efeu und Immergrün überwucherten Waldbodens in einen zweiten und dann weiter in den nächsten und übernächsten Stamm. Es waren nicht einfach nur dicke Äste. Diese besondere Schwarzföhre hatte tatsächlich mehrere Stämme.
Wenn man vor ihr stand, sich klein und unbedeutend vorkam im Angesicht eines Geschöpfes, das wohl schon die Großeltern der Großeltern beim kindlichen Herumtollen beobachtet hatte, dann war es manchmal, als würde eine Stimme zwischen den Ästen ihren Besuchern einen Gruß zuflüstern – und eine Geschichte, über das Leben, das vielleicht nicht immer ganz einfach ist, aber was auch immer kommt, es geht auch wieder vorüber. Klage nicht über das, was dich stärker gemacht hat, wenn es vorüber ist. Halte nicht an dem fest, was dich im Augenblick glücklich macht, lass es ziehen und freue dich, dass du es erleben durftest.
Viele Jahre sind vergangen, seit ich diesen Baum zum ersten Mal besuchte. Unzählige male war ich seither zurückgekehrt. Wenn mich meine Gedanken ruhelos durch den Wald trieben, wenn Sorgen meine Stirn mit Falten bedeckten, wenn Antworten sich vor mir zu verstecken schienen wie Mäuse im dichten Unterholz. Am Fuß der alten Schwarzföhre, angelegt an ihren mächtigen Stamm, dessen grau-braune Borke manchmal wie die schuppige Haut eines Drachen vergangener Zeiten anmutete, angelehnt an einen Freund, fand ich Ruhe und manchmal auch Antworten. Oder einfach nur ein wenig Zuversicht, dass wohl auch das, was mich in diesem Augenblick beschäftigte, vorüberziehen würde, wie so vieles, dass an diesem Baum bereits vorübergezogen war.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Sprache des Baumes verstehen, könnte den Geschichten lauschen, die er zu berichten hatte, die seinen Stamm in so viele gespalten hatte, welcher Sturm jenen Ast geknickt und welches Gewitter jene Wurzel von Erde freigespült hatte. Vom Leben gezeichnet stand er da, dennoch vor Kraft strotzend. Unnachgiebigkeit mochte ihn im Sturm so manchen Ast gekostet haben, Ausdauer ließ ihn Dürren überstehen. Kälte und Hitze hatten ihm zugesetzt. Ein Baum wie ein Leben, das war er, ein Baum wie mein Leben – mein Lebensbaum.
Im Laufe der Jahre wurde die Schwarzföhre für mich zu einem stummen Freund, wobei – ganz so stumm war sie nicht. Im Frühjahr, wenn das Leben nach dem Winter mit aller Kraft zurückdrängte, wenn der Waldboden übersät war mit gelben, weißen und violetten Blüten, wenn sich das erste saftige grün mit den Triebspitzen zeigte, dann waren es die Stimmen der Vögel, die davon erzählten, was sie hoch oben im Wipfel des Baumes vernommen hatten. Im Sommer, wenn ich im Schatten am Stamm vor der Hitze des Tages Zuflucht suchte, war es das Zirpen der Grillen, ein feines Surren in der Luft, ein Rauschen im Blätterdach rundum. Wenn der Herbst den Wald in feurigen Farben erstrahlen ließ, von rot über gelb bis orange, vernahm ich die Botschaft mit dem kühlen Wind, der raschelnd so manche Blätter vor sich hertrieb. Selbst im Winter, wenn die bunten Farben verschwunden waren und nur noch das grau-braun der Stämme zwischen dem Schnee von der einstigen Pracht kündete, lehnte ich mich an meinen alten Freund an, lauschte seiner wortlosen Erzählung im Klirren der Eiskristalle, die an seinen dunklen Nadeln hingen.
Eines Tages traf ich meinen Lebensmensch. Das Leben hatte ihn gezeichnet, dennoch stand er voller Kraft vor mir. Unnachgiebigkeit hatte ihn so manch bittere Erfahrung machen lassen, Ausdauer einige schwere Zeiten überstehen lassen. Die Jahre und viele Herausforderungen hatte ihm zugesetzt. Ein Mensch wie das Leben, das war er, ein Mensch wie mein Leben – mein Lebensmensch.
Ab und an gehen wir gemeinsam in den Wald, besuchen die alte Schwarzföhre, die noch immer mächtig vor uns aufragt, ganz so, als würde das Dach des Himmels auf ihren Ästen ruhen und wir darunter Schutz finden. Längst schon versuche ich nicht mehr, einen dieser Augenblicke festzuhalten, sondern bin dankbar für jeden einzelnen, den ich erleben darf. Und wenn das Leben meine Bitte erhört, dann werde ich noch viele Male meinen Lebensbaum besuchen – gemeinsam mit meinem Lebensmensch.
Ach ja, der Baum auf dem Bild ist besagter Lebensbaum. Auch in dieser Geschichte versteckt sich ein Körnchen Wahrheit.
Ein Eintrag zu „Ein Baum wie ein Leben“