SICH DEM SCHMERZ STELLEN

Tagelang habe ich überlegt, ob ich diesen Blog schreiben soll oder nicht. Was hier später folgen wird, ist definitiv schwer verdauliche Kost, aber gleichzeitig wichtig für meinen Heilungsprozess – und vielleicht ein Impuls zur Aufarbeitung für jene, die ähnliches erlebt haben. Es nur für mich selbst niederzuschreiben oder im therapeutischen Kontext zu erzählen, hat auf mich nicht dieselbe Wirkung, wie es „in die Welt hinauszurufen“ … unabhängig davon, wer letztendlich zuhören (oder lesen) wird. Vor dem Angesicht der Öffentlichkeit zu bekunden, was geschehen ist, stellt einen essenziellen Faktor meiner Heilung dar.

Hier also nun eine Triggerwarnung: die folgenden Schilderungen können belastend wirken. Ich wähle bewusst möglichst sachliche Formulierungen. Am Ende werde ich über die Auflösung schreiben. Insofern „Happy End“ Spoiler, der aber nicht ungeschehen macht, worum es geht.

Ab hier weiterzulesen ist deine eigene Entscheidung.

Als ich 13 Jahre alt war, durchlebte ich während meiner Schulzeit eine Phase, dich ich bis vor wenigen Tagen völlig aus meiner Erinnerung verbannt hatte. Ein Ereignis in der Gegenwart holte die dazugehörigen Emotionen und Bilder schlagartig in mein Bewusstsein. Damals, vor nunmehr 40 Jahren, waren manche Mädchen meiner Klasse körperlich reifer als andere, hatten bereits weiblichere Formen. In den Pausen, sobald die Lehrkraft den Raum verlassen hatte, packten mehrere Jungs ein Mädchen, hielten sie fest, griffen mit ihren Händen unter die Kleidung, berührten die Mädchen an ihren Brüsten. Sie nannten das „Ausgreifen“. Die Mädchen versuchten sie loszureißen, strampelten, doch sie hatten keine Chance. Das geschah täglich, über Wochen und Monate, beinahe in jeder Pause, ausgenommen die Mädchen schafften es rechtzeitig auf die Toilette zu verschwinden. Ich war 13 Jahre alt, körperlich nicht so weiblich ausgeprägt wie andere, aber ich hatte zu jener Zeit bereits einige traumatische Erlebnisse hinter mir, war mit mir selbst völlig überfordert, versuchte einerseits, möglichst nirgends anzuecken um nicht weiter „schlimme Konsequenzen“ zu provozieren, und andererseits kam ich mit meinen Emotionen überhaupt nicht klar. Täglich diese sexuellen Übergriffe zu erleben, die aufgewühlten Emotionen der anderen Mädchen abzubekommen, und zu erleben, dass niemand etwas dagegen unternahm, denn keines der Mädchen ging zu einem Lehrer und meldete die Vorfälle. Über die Gründe dafür kann ich nur spekulieren. Auch die Jungs, die teilnahmslos zusahen, unternahmen nichts. Es war, als würden alle irgendwie zustimmen. Für mich war das mehr als verstörend. Ich hatte weder den Mut noch die Kraft, mich als Außenseiterin, die ich damals bereits war, gegen einen Klassenverband zu stellen. So blieb mir nur ein Ausweg: ich unterdrückte meine Emotionen, mein Fühlen, so weit, bis ich nichts mehr fühlte – und das blieb mir lange Zeit erhalten. Gut 30 Jahre konnte ich manche Bereiche meines Körpers nicht spüren, lehnte Teile meiner Weiblichkeit ab, hatte das Gefühl dafür verloren bzw. unterdrückt. Die Erinnerungen versanken im Dunkel des Verdrängens, doch die Gefühlstaubheit blieb.

Anfang Mai geschah etwas, das mich triggerte. Ich nahm bei einer anderen Frau das Gefühl der Hilflosigkeit wahr, spürte ihr Ausgeliefertsein einer Situation in Kombination mit Männern, die diese Situation kontrollieren … es war, als würde ich durch ein temporales Wurmloch zurück in meine Schulzeit fallen, in einer jener Pausen. Mein damals eingefrorener Reflex der Selbstverteidigung und des Beschützens einer hilflosen Person, brach durch und ich hatte nicht die geringste Chance, diesen zu kontrollieren. Es war ein Blackout mit luzidem Träumen. Ich nahm war und war doch unfähig, mein Handeln – den Schutzreflex – zu steuern.

Seither arbeite ich daran, die Ereignisse zu verarbeiten, sowohl die neueren als auch jene aus meiner Schulzeit. Mir ist heute bewusst, dass ich als 13jährige völlig überfordert war und nicht anders handeln konnte – auch wenn ich mich schuldig fühlte, nichts gegen die Übergriffe unternommen zu haben. Ich konnte diesen Punkt meiner Vergangenheit auch vor dem Trigger nicht bearbeiten, da meine Erinnerungen völlig verdrängt waren. Insofern überrollten mich die Ereignisse. Das Einzige, was ich wirklich tun kann, ist all dies nun gründlich aufzuarbeiten, damit nichts davon wieder ins Unbewusste absinken kann/muss.

Dies ist es auch, was ich an dieser Stelle weitergeben möchte an jene, die ähnlich schlimme Erfahrungen gemachten haben und nur dadurch weitermachen konnten, indem sie diese völlig verdrängt haben.

Wenn so etwas wie aus dem Nichts in der Gegenwart auftaucht, dann stellt dich dem! Schieb es nicht wieder zurück in den Kerker des Verdrängens. Es würde wieder an die Oberfläche kommen. Nutze die Gelegenheit und verarbeite – was auch immer es ist. Es kann nur dann an die Oberfläche des Bewusstseins kommen, wenn dein Unterbewusstsein der Auffassung ist, dass du stark genug dafür bist. Auch wenn es schlimm ist, stell dich dem verdrängten Schmerz, damit er gehen kann.

Ich ging neuerlich durch jenen Schmerz, den ich vor 40 Jahren in die Tiefen meines Unterbewusstseins zurückgedrängt hatte. Dazu gehörten ein paar schlaflose Nächte, zittrige Tage, eine Menge Tränen, wertvolle Gespräche mit Menschen, die mir Halt gaben. Fragende Blicke in den Spiegel. Ein Gefühlskarussell aus Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Schmerz, Angst, Schuld und Scham – doch irgendwann war ich durch. Mittlerweile fühle ich mich frei, kann auf die Ereignisse von vor 40 Jahren und Anfang Mai zurückblicken und emotional in Balance bleiben.

Was geschehen ist, ist geschehen. Nichts, was jemand sagt oder tut, kann es etwas daran ändern. Was geschehen ist, hätte niemals geschehen dürfen. Was in der Gegenwart zu tun bleibt, ist alles zu unternehmen, damit die Geschehnisse sich nie mehr wiederholen. Das ist nur möglich, wenn wir uns dessen bewusst sind, was geschehen ist, und uns für andere Wege entscheiden.

Verdrängung erhöht die Gefahr der Wiederholung.  

Mein Unterbewusstsein entließ eine verdrängte Erinnerung in die Gegenwart, weil es darauf vertraute, dass ich stark und reflektiert genug sei, um damit klarzukommen. Ich denke, ich habe das mir Bestmögliche daraus gemacht. Vielleicht nicht die optimale Lösung, aber jene, die mir hier und heute möglich ist – denn genau darum geht es im Leben: das Bestmögliche zu tun.

Bild: pixabay.com

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s