Vor wenigen Tagen begegnete mir im Netz eine Aussage in der Art von: „Jemand meinte, ich soll mir die positiven Seiten von Borderline anschauen, aber beim besten Willen kann ich nichts Positives an Borderline finden.“
Ich denke, dass viele Menschen – Betroffene oder Angehörige – das auch so sehen. Ich nicht. Ganz und gar nicht.
Zum einen hat für mich alles – wirklich alles – im Leben zwei Seiten, manchmal sogar mehr. Nichts ist nur gut, nichts ist nur schlecht. Zugegeben, manchmal gehört Hardcore-Philosophie dazu, in manchen Ereignissen oder Menschen etwas Positives zu entdecken, doch das liegt hauptsächlich am subjektiven Ego, das es ein wenig zu dämpfen gilt. Sobald mein Blick stärker Richtung Objektivität fokussiert, wird es wesentlich einfacher.
Zum anderen leben wir in einem dualen Universum. Eine Menge kluger Köpfe hat dazu Statements wie folgende postuliert: „Kein Problem kann getrennt von seiner Lösung existieren.“ „Die Bewertung, ob etwas gut oder schlecht für uns ist, wird häufig durch den Lauf der Zeit umgekehrt.“ „Yin und Yang gemeinsam ergeben ein Ganzes.“ „Pol und Gegenpol bedingen einander.“ „Ohne das eine (z.B. Dunkelheit, Nacht, kalt, …) können wir das anderen (z.B. Licht, Tag, warm …) nicht wahrnehmen. Erst anhand der Unterscheidung können wir erkennen.“ Übrigens ergibt sich aus dem Erkennen BEIDER Seiten fast automatisch der Ausstieg aus dem Drama (siehe Beitrag vom 14.01.2020).
Ein Teil von mir stimmte all dem schon vor langer Zeit zu. Ein anderer – mein rechthaberisches, leicht zu kränkendes Ego – fand 1001 Argumente, warum das für mich nicht zutreffen konnte.
Nach vielen Mühen gelang es mir schließlich, mein Ego an die Leine zu legen. Danke an dieser Stelle auch all jenen Menschen, die mich in die Geheimnisse von NLP einweihten. Eine der wichtigsten Fragen, die sie mich lehrten, war jene: Was ist das Gute daran? Oh ja, es gibt in ALLEM etwas Gutes. Es zu entdecken, erfordert mitunter viel Arbeit und die Bereitschaft, „nicht-Recht-haben-zu-wollen.“
Was ist das Gute an Borderline? Diese Frage habe ich mir aufrichtig gestellt und ehrlich beantwortet. Deshalb gibt es hier und heute eine Liste meiner Big 5 der positiven Seiten meines Borderline-Syndroms.
- Emotionalität zum Quadrat: intensives, fast grenzenloses Fühlen – für mich die absolute Nummer 1. Liebe, Geborgenheit, Sex … 😊😊
- Theatralik und Dramatik in Reinkultur: lässt sich wunderbar beim Schreiben von hochemotionalen Geschichten ausleben und verleiht den Stories das gewisse Etwas, Kopfkino pur 😊
- Bewusste Abgrenzung statt unbewusster Abschottung: durchlässig sein für das, was von anderen kommt. Eine besondere Art von Empathie, die bis in die körperliche Wahrnehmung des anderen reicht.
- Hyper-Sensibilität: kleinste Veränderung in Stimmungen anderer, in deren Wortstellungen in Sätzen oder Gesprächen wahrnehmen können. Manche meinen, ich könnte Gedanken lesen, was natürlich Blödsinn ist. Sind die Antennen ausgerichtet und der 6. Sinn aktiviert, werden die Menschen transparent.
- Rollenverständnis und Positionswechsel: da ich die Welt lange nicht von meinen eigenen (weil nicht vorhanden) Standpunkt aus wahrnehmen konnte, lernte ich, sie aus der Sicht der anderen zu sehen. Eine Fähigkeit, die insbesondere bei Konflikten sehr hilfreich ist, weil sie hilft, nachzuvollziehen, was andere zu ihren Handlungen motiviert. Ich kann verstehen, ohne zustimmen zu müssen.
Für mich ist meine Borderline-Persönlichkeit ein Potenzial, aber kein Problem. Und schon gar keine Krankheit. Sie befähigt mich zu einem Leben mit intensiven Wahrnehmungen und Gefühlen, voller Fantasie und Träume.
Natürlich liegt eine gewisse Herausforderung darin, mit solch einer Persönlichkeit inmitten einer Gesellschaft zu leben, die dafür wenig Verständnis aufbringt und „psychische Erkrankungen“ pauschal vorverurteilt. Intoleranz und Ignoranz sind wie Dornen, und manchmal brauche ich ein sehr dickes Fell, um nicht mein Gleichgewicht zu verlieren.
Aber hey, wer behauptet, das Leben sei ein Spaziergang? Für mich ist es mehr wie eine Wanderung über Berge und durch Täler bei jedem Wind und Wetter rund ums Jahr. Manchmal regnet es, ein anderes Mal scheint die Sonne. Man weiß nie, was hinter dem nächsten Hügel wartet. Nur eines ist gewiss: es hat auf jeden Fall mindestens zwei Seiten.
Fluch oder Segen?
Eigentlich egal, ich mach einfach das Beste draus 😉
Was für ein toller Beitrag! Vielen Dank für diesen Blickwinkel!
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