Was es ist – und was es nicht ist

Viele Male wurde ich bereits gefragt, woran man Borderliner erkennt. Ich habe mich das auch gefragt, habe in der Fachliteratur recherchiert. Was ist spezifisch „Borderline“ und was ist „normal“? Ich kam bei dieser Suche zu einigen Erkenntnissen.

Spoiler-Alarm: Was ich jetzt erzählen werde, mag provokant sein, aber es ist meine ehrliche Meinung. Und da ich in einem Land lebe, in dem freie Meinungsäußerung zulässig ist …

Mit einem Borderline-Syndrom werden gemeinhin gewisse „Beschwerden“ verbunden, wie z.B. starke Stimmungsschwankungen. Allerdings gibt es mannigfaltige Gründe für Stimmungsschwankungen. Angefangen bei Hormonen. Das chronische Gefühl von Langeweile kennen vermutlich auch viele Menschen (wenn sie an ihre Schulzeit zurückdenken?). Innere Leere? Der weit verbreitete Trend, immer mehr zu konsumieren um nur ja nichts im Leben zu versäumen – was ist er anderes als die (Über-)Kompensation von innerer Leere? Selbstverletzendes Verhalten? Bei selbst zugefügten Schnittwunden eindeutig erkennbar, aber was ist mit all den anderen Formen? Wenn Menschen sich wider besseren Wissens Schaden zufügen durch Alkohol, Drogen, ungesunder Lebensweise … Wo wird die Grenze gezogen zu potenziell selbstzerstörerischen Verhaltensweisen? Ein negatives Selbstbild? Wie viele können sich den morgens ohne Make-up in den Spiegel schauen und sich mit sich selbst gut fühlen? Wie viele verbergen sich hinter diversen Masken, Statussymbole, Titeln … um ein mangelndes Selbstwertgefühl zu kompensieren? Impulsivität? Nun, es gibt viele temperamentvolle Menschen, die keine Borderliner sind. Ach ja, Eigen- und Fremdgefährdung. Ganz ehrlich, ich fahre fast täglich mit dem Auto morgens nach Wien und abends wieder zurück. Das, was ich dabei täglich erlebe an Rücksichtlosigkeit, Dummheit, Ignoranz und Gleichgültigkeit kann ich nur unter die Rubrik „Eigen- und Fremdgefährdung“ einreihen.

Im Rahmen meiner Recherche kam ich also zu der Erkenntnis, dass die Unterscheidung alles andere als einfach ist. Wer ist Borderliner? Wer ist es nicht?

Auch die Anwendung von „5 aus 9“, wenn 5 oder mehr Symptome der Liste auftreten, kann man davon ausgehen, betroffen zu sein … funktionierte nicht, da ich auch Menschen kenne, auf die mehr als 5 Punkte zutreffen, und die dennoch keine Borderliner sind.

Vielleicht hing es mit der Intensität zusammen? So meine nächste Überlegung. Aber wo ist die Grenze? Nehmen wir eine Intensitäts-Skala von 0 bis 100 an. Ab wann ist man Borderliner? Ab 50? Was ist man dann mit 50,5? Unterscheiden 0,5 „normal“ von „anders“? Und wer bitte hat die Skala definiert? Anhand welcher Kriterien? Zeitgeist eingerechnet? Vor nicht mal 100 Jahren war gesellschaftlich anerkannt, was heute als No Go gilt (Stichwort: gesunde Watschen).

Irgendwann war ich nur noch genervt. Ich hatte ein Schild (oder eine Diagnose) bekommen, aber war ich wirklich so viel anders? Wie weit war ich vom „normalen Durchschnitt“ entfernt? Würde man die Skala um ein paar Punkte verschieben, wäre ich dann „normal“?

Irgendwann beschloss ich, mich selbst weder als krank noch gestört zu betrachten. Ich habe eine vielfältige, komplexe, gerne auch eigenwillige Persönlichkeit. Punkt. Ich bin bedingungslos und grenzenlos in der Liebe wie im Leid. Vielleicht passt diese intensive Feinfühligkeit nicht in unsere Zeit, in der Mobbing zu einer Standarderfahrung von Jugendlichen geworden ist; in der viele Jobs (auch meiner) einen Einsatz verlangen, der einer dauerhaften Überlastung gleichkommt bis hin zur fast logischen Konsequenz Burnout; in der man nur selten auf authentische Menschen trifft, die sich nicht hinter einer künstlichen Fassade verstecken – oder dort Schutz suchen, weil sie ihrerseits den Irrsinn unserer hektischen, oberflächlichen Zeit nicht mehr anders aushalten. Wie viel „Echtes“ begegnet uns noch in einer Zeit von „Artificial & Fake“? Vielleicht werden es nur deshalb immer mehr Borderliner, weil immer mehr Menschen nicht mehr mit dem Druck, der Ignoranz und Rücksichtslosigkeit unserer Zeit klarkommen? Vielleicht sehnen sich einfach immer mehr von uns nach zu einer aufrichtigen Umarmung und zwischenmenschlicher Wärme?

Irgendwann habe ich erkannt, dass es für mich von Anfang an nur darum ging, das Gefühl zu bekommen, als die geliebt zu werden, die ich bin. In die Norm oder den Durchschnitt zu passen, war weder erreichbar und noch wünschenswert. Ich bin, wer ich bin. Ich bin OK. Ich bin Borderlinerin – und das bedeutet für mich: ich bin eine „Grenzgängerin“. Ich weiß, was ich kann oder wer ich bin. Und ich weiß, was ich noch können möchte oder wer ich noch sein will. Ich erweitere laufend meine Grenzen. Stillstand passt nicht zu mir. Ich bin täglich auf Entdeckungsreise, in dieser Welt und in mir selbst. Ich bin lebendig. Und ich schütze meine Grenzen, denn ich bin verletzlich, aber wäre ich es nicht, wäre ich unberührbar.

Für mich ist Borderline eine Spielart der menschlichen Vielfalt. Nicht mehr und nicht weniger.

Man sagt mir nach, ich hätte einen grünen Daumen, weil bei mir die unterschiedlichsten Pflanzen blühen und gedeihen. Dabei mache ich nichts Besonderes mit ihnen. Ich achte einfach nur darauf, wer was braucht, um sich wohlzufühlen. Ein wenig Aufmerksamkeit, ein bisschen Pflege …

Was könnte Borderline wohl sein, wenn es statt auf Vorverurteilung und Ablehnung, auf Interesse und Wertschätzung trifft?

2 Einträge zu „Was es ist – und was es nicht ist

  • Ich will mir gar nicht anmaßen, in die Definitionsdiskussion einzusteigen. Doch Border heißt ja nun mal Grenze, d.h., das mag jetzt etwas abwertend klingen, weder Fisch noch Fleisch, weder völlig durchgeknallt bzw. im psychiatrischen Sinne halt in eine klare Verrücktheits – Schublade passend, noch so wunderbar normal, dass das dem emotional empfänglichen Betrachter schon wieder irre vorkommt. Schwierig genug für den Arzt oder Therapeuten, für den Betroffenen und für die hilflos danebenstehenden anderen. Aber wie gesagt, will mich hier nicht aus dem Fenster lehnen, da haben sich schon Koryphäen die Zähne ausgebissen!
    Vielmehr will ich einfach nur zustimmen: der Homo Automobilicus ist einer er irrsten. Kenn ich und, da ich selbst den Führerschein in einer Großstadt gemacht habe, wenn auch kleiner als Wien, seinen spezifischen Wahnsinn. Ist doch ein Automobilist heute eine Mischung aus einsamem Kämpfer gegen Seinesgleichen, vor allem aber gegen die Anderen (als da wären Fußgänger, Radler usw.), lonesome rider. Ebenso aber, und er tritt ja in Massen auf, einer eigenartigen Massenhysterie unterworfen wie zuletzt vielleicht berittene Panzerreiterheere (auch da war keine Verständigung untereinander möglich, aber man ritt gegen z.B. Bogenschützen zu Fuß an).
    Weiter gedacht: der Normale ist nicht normal sondern normal verrückt. D.h. er erfüllt mit allen Spinnereien, und seinen sie noch so gefährlich – alltägliche Autorasereien, Kriegsbegeisterung und so weiter sind nur extreme Beispiele, unser Wirtschaftsgebaren, die Anbetung des Geldes die Unauffällligste, also gefährlichste – nur eine gesellschaftliche Konvention, verletzt sie nicht über Gebühr und erhält den erstrebten Stempel „normal!“
    Mit wirklich Irren kann ich keinen Krieg anfangen. Mit wirklich Irren, und ich erlaube mir hier einfach mal eine diagnostizierte Borderline – Störung zu subsumieren, was hier ja eher ein Ehrentitel sein soll, kann ich weder ungläubigen Journalisten den Kopf absäbeln noch irgendwelche Dronen irgendwelche anderen Leute bombardieren lassen und was der lustigen Ideen der definiert Normalen noch sind.
    Neu? Nein, alte Psychiater – Weisheit. Leider ist es so, die (diagnostizierten) Verrückten sind nicht so sehr viele und sie stellen recht wenig Schlimmes an. Das tun schon die Normalen.
    Und plädieren dann auf Schuldunfähigkeit, weil sie zu viel gesoffen haben oder wegen sonst einer Ausrede.
    Ja, und wenn wir recht überlegen galt bis vor kurzem (Hysterie usw.) eigentlich jede Frau als potentiell nicht ganz zurechnungsfähig. Selbstverständlich wissenschaftlich erwiesen. Es wäre mal interessant nachzufragen, wie viele (Männer, aber nicht nur) dieser alten Lehre anhängen…

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    • Auch ich stelle mir des Öfteren die Frage, wie erstrebenswert es ist, „normal“ zu sein, wenn die „Normalen“ unsere Welt zugrunde richten. Kein Tier zerstört willentlich seinen Lebensraum, aber Homo Sapiens hat sich ja über die Tierwelt erhoben. Berechtigt ihn dies zwangsläufig zum Ausbeuten jenes Biotops, das ihn erschaffen hat? Die Auswirkungen dieser Hybris werden wir wohl noch zu spüren bekommen.
      Es mag seltsam anmuten, aber ich bin der Überzeugung, dass heute kaum etwas so wenig genutzt wird wie die menschliche Fähigkeit zur Reflexion und damit zur Verhaltungsveränderung. Welch Potenzial da brach liegt! Was wäre damit alles möglich …

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