Ein provokanter Titel, ich weiß, aber meine diesbezüglichen Gedanken sind nicht minder provokant. Durch die vergangenen Wochen zieht sich für mich ein roter Faden: die Borderline-Diagnose. Entweder sie betraf die Menschen direkt oder ihr unmittelbares Umfeld, entweder hatte ich diese Menschen eben erst kennengelernt oder kannte sie bereits seit Jahren. Immer häufiger habe ich den Eindruck, niemanden mehr zu kennen, der nicht in irgendeiner Weise davon betroffen ist.
Ernüchternd?
Und wie!
Deshalb hier ein paar Gedanken dazu.
Nimmt die Zahl der Borderliner zu?
Aus meiner Sicht: Ja. Da nur wenigen der Ausstieg (also die „Heilung“) gelingt und gleichzeitig jedes Jahr neue Fälle dazukommen (weil ja mehr Menschen geboren werden als im gleichen Zeitraum sterben), wächst der Anteil an Borderline-Betroffenen in der Bevölkerung automatisch.
Sind immer mehr Menschen psychisch krank bzw. gestört?
Jein. Für mich hat es eher damit zu tun, dass unsere Gesellschaft extrem fordernd geworden ist, immer weniger „Verletzlichkeit“ toleriert und damit zwangsläufig die Zerrissenheit zwischen dem, was man sein sollte und dem, was man ist, fördert.
Wenn ich die klassischen Borderline-Symptome hernehme, beginnend bei mangelndem Selbstwert, Überlastung durch Eigen- und Fremdausbeutung, Schwarz-Weiß-Denken, Angst vor dem Verlassenwerden, Identitätsverlust (Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht mehr versuche zu sein, was andere von mir erwarten?), extreme Emotionalität und Stimmungsschwankungen, Depressionen … mal ehrlich, auf irgendeine Weise ist jeder Mensch irgendwann in seinem Leben davon mehr oder weniger betroffen. Ein Test zum „richtigen“ Zeitpunkt wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Diagnose bringen.
Und was dann?
Therapie, Psychopharmaka, endlose Selbstzweifel unter dem Stigma der Diagnose, an einer Störung zu leiden. Danach folgt Ursachenforschung (= Wühlen in der Vergangenheit), hoffentlich auch Lösungsansätze kreieren (= Tools für die Gegenwart und Strategien für die Zukunft). Alles schön und gut, aber …
… wer therapiert die Gesellschaft, die ihren Beitrag dazu leistet? (Stichwort: Fremdausbeutung). Die jungen Menschen keine Chance bietet, sobald Narben an den Armen sichtbar sind. Die Narben in der Seele sehen hingegen nur wenige. Wie auch? Um die zu erkennen, muss man mit dem Herzen blicken.
An dieser Stelle könnte ich noch lange argumentieren, ein aufwühlendes Plädoyer verfassen … oder es auf den Punkt bringen, den ich wahrnehme:
Borderline ist schlimmer als eine Seuche, es ist ein Spiegel unserer gegenwärtigen Gesellschaft, in der …
- … im Idealfall alles kontrolliert läuft, jeder Mensch wie eine Maschine zu funktionieren hat, für „Menschliches“ viel zu wenig Platz bleibt.
- … Krankheiten all zu oft auf Symptome reduziert werden, vielleicht noch auf den Körper als Ganzes, aber Gefühle? Die Seele?
- … die Existenz einer Seele gerne in Frage gestellt wird, weil nicht wissenschaftlich erklärbar. Oder als esoterisch abgestempelt.
- … in der sich ganz viele selbst am nächsten sind, häufig gar nicht böswillig, sondern einfach aus der Angst heraus, etwas zu verlieren, wenn sie ihre Arme und Herzen öffnen.
- … in der es an Vertrauen mangelt. Wie könnte es auch anders sein, bei all dem, was rundum geschieht. Wer nicht aufpasst, wird über den Tisch gezogen, betrogen, ausgenutzt.
- … in der die Seele verkrüppelt im ständigen Misstrauen, das Herz versteinert, der Mensch krank wird und seine Psyche eine eigene Hölle des Schmerzes erschafft.
- … in der die meisten Menschen bedürftig sind an Zuwendung, Anerkennung, Liebe, Geborgenheit, nur noch wenige in der Lage sind, all dies für sich selbst zu empfinden und es anderen weiterzugeben OHNE etwas dafür im Gegenzug zu erwarten.
Unsere Gesellschaft hat verlernt, was es bedeutet, Mensch zu sein. Im Gegensatz zu früheren Zeiten werden die Menschen heute allerdings nicht durch Kriege oder Hungersnöte abgelenkt. Wenn die Bedrohung für Leib und Leben wegfällt, tritt die Frage nach dem „wofür?“ in den Vordergrund.
Sinn und Sein.
Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Lebens?
Zwei der wichtigsten Fragen überhaupt, denn in ihren Antworten findet sich – meiner Erfahrung nach – genau jenes, das es braucht, um aus der Borderline-Achterbahnfahrt auszusteigen und zurück in die Umarmung des Lebens zu finden.
Ist Borderline heilbar?
Meine persönliche Erfahrung: JA! Wenn man in sich hineinspürt, die eigene Bedürftigkeit entdeckt und lernt, diese zu erfüllen, aus sich selbst heraus. Nebenbei fand ich heraus, wer ich bin, was der Sinn meines Lebens ist und wie ich mit all dem, was in mir ist, ein wundervolles Leben führen kann.
Krise und Chance gehen stets Hand in Hand. Borderline kann ein Fluch sein – oder ein Segen, weil es wachrüttelt, sich den wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu stellen, aufzuwachen, bewusst zu werden, sich als Mensch weiterzuentwickeln. Nicht zu reagieren, sondern zu agieren. Nicht zu überleben, sondern zu leben, lebendig zu sein im Augenblick, im Hier und Jetzt.
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