Über den Begriff „normal“ philosophiere ich nahezu täglich. Vor allem, wenn Tage wie dieser meinen Weg säumen: Morgens in der Bahn konstruiere ich vor meinem geistigen Auge ein Konzept, komplexe Prozessabläufe inkludiert und Parameter für die Qualitätssicherung, ohne auch nur einen Strich auf Papier zu machen oder etwas in eine Datei zu tippen, während ich zeitgleich meditativer Klaviermusik lausche. Nebenbei beobachte ich die Menschen rundum, nehme immer noch zu viel von ihren zumeist völlig unangebrachten Telefonaten im öffentlichen Raum wahr, staune (nette Formulierung 😉) über das, wofür sie ihre Zeit und Worte verschwenden. Eine Phrase triggert meine Kreativität und ich schreibe (nebenbei) in eine Notiz folgendes Gedicht:
Aum Limit renna is oafoch.
Imma mehr, imma schnölla.
Losst di s’Lebn intensiv gspiarn,
füht se kroftvoih aun,
is oba nua de oane Seitn von da Medäun.
In da Ruhe liegt de Kroft,
host a scho moi ghert .
Gaunz vüh Kroft liegt a in da Stüh
de zwo teun,
net wei sa se nix mehr zum sogn haum,
sundarn weus koane Wuart mehr brauchen
und den aundarn oafoch gspiarn
im Herzen drin.
Hier die Übersetzung für jene, die mit zentralösterreichischer Mundart (eine meiner Herzsprachen) eine Herausforderung erleben:
Am Limit rennen ist einfach,
immer mehr, immer schneller,
lässt dich das Leben intensiv spüren,
fühlt sich kraftvoll an,
ist aber nur die eine Seite der Medaille.
In der Ruhe liegt die Kraft,
das hast du schon mal gehört.
Ganz viel Kraft liegt in der Stille,
die zwei teilen,
nicht, weil sie sich nichts mehr zu sagen haben,
sondern weil sie keine Worte mehr brauchen,
und den anderen einfach spüren
in ihrem Herzen drin.
… und schon geht’s weiter mit der Feinarbeit am Konzept, betrachte ich die vorbeiziehende Landschaft, übe mich im Ignorieren des Unwesentlichen. Inmitten all dessen verharre ich in meiner Bubble um die (emotionale) Energie von jenen Menschen auszusperren, deren Sätze das Gegenteil von gewaltfreier Kommunikation (nach Marshall Rosenberg) darstellen – und denen dieser Umstand vermutlich nicht einmal bewusst ist.
Ich betrachte mich selbst als „normal abseits der Norm“ oder [nicht] ganz alltäglich. Gemessen am Verhalten der normgebenden Masse bin ich alles andere als „normal“.
Wenn ich mit Angehörigen von Borderlinern spreche, höre ich häufig den Wunsch heraus, die Betroffenen mögen „normal“ werden.
Normal?
In welchem Sinne normal? Der normgebenden Masse entsprechend? Das halte ich für schwierig, ohne sich selbst aufzugeben. Für mich ist es normal, zwischen Gedanken extrem schnell hin und her zu springen, mich von Eindrücken inspirieren zu lassen, über Analogien neue Ideen zu entwickeln, aber ich kann mir gut vorstellen bzw. erlebe das im Alltag, das viele davon schlichtweg überfordert sind, wenn ich das, was ich im Kopf habe, eins zu eins mit anderen zu teilen versuche. Auf der anderen Seite kann ich derart fokussiert in einer einzigen Aufgabe versinken, dass ich nichts mehr um mich wahrnehme. Die normgebende Masse empfinde ich häufig als mühsam, langweilig, träge, unflexibel, problemorientiert … das bedeutet nicht, dass ich diese Menschen abwerte, aber ich bin einfach anders. Anpassung an die „Normalität“ ist möglich, aber anstrengend.
Die meisten Borderline, die ich bis dato kennengelernt habe, tragen in sich ein ähnlich komplexes Potenzial an Kreativität, Emotionalität, … auch sie sind „anders normal“. Sie in eine „normale Normalität“ zu zwingen, kann und darf niemals das Ziel einer Therapie sein, denn es wäre – meiner Ansicht nach – ein ultimativer Akt der Selbstverletzung.
Mir geht es gut, ich fühle mich ausgeglichen (manchmal etwas überarbeitet, weil zu lange am Limit, aber irgendwie ist das auch reizvoll, auf jeden Fall bewusst 😉) und mein Leben funktioniert, WEIL ich „normal abseits der Norm“ lebe. Mein Heilwerdung begann in dem Augenblick, in dem ich entschied, nicht mehr sein zu wollen wie die anderen, sondern einfach ICH selbst. In der für mich grauen Welt öffnete sich eine Tür und ich holte jenes farbenprächtige Erleben in die Realität, das ich bislang in mir verborgen hatte.
Deshalb heute mein Appell an alle Borderline, Angehörige und jeden Menschen, der dies liest:
Sei, wer du bist! … wer du immer warst und immer sein wirst, ganz tief in dir drin, BEVOR all das in deinem Leben geschah, das dich den Glauben an dich selbst und das Vertrauen ins Leben und die Menschen verlieren ließ. Kehre zurück zum Ursprung, zur immerwährenden Quelle deiner Kraft, an den Punkt, der dich mit dem Leben verbindet, und du wirst alles finden, was du für deinen Weg brauchst: Liebe, Lebendigkeit, Lebensfreude, Leichtigkeit … all das ist in dir und wird es immer sein. Du musst es nur (wieder)finden.
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