Ich hatte den 40er bereits hinter mir gelassen, als ich die Diagnose nach meinem 2. Burnout erhielt. Damals wusste ich zwar, dass einiges in meinem Leben falsch bis zerstörerisch lief, aber bis zu diesem Zeitpunkt sah ich mein Umfeld und die überhöhte Arbeitsbelastung als Gründe dafür an. Mich selbst als Verursacherin meines chaotischen Lebens und damit auch meines Schmerzes zu akzeptieren war eine enorme Herausforderung.
Mal ehrlich, so eine Diagnose ist etwas anderes als ein gebrochenes Bein oder ein Grippevirus. In den Medien kursiert ein sehr reduziertes Bild von Borderline: Jugendliche mit zerschnittenen Unterarmen. Ich war weder jugendlich noch hatte ich selbstzugefügte Schnittwunden an meinem Körper. Damit schien doch eindeutig: ich konnte keine Borderlinerin sein, oder? In meinem Umfeld hatte ich erlebt, wie Jugendliche mit diesen unverkennbaren Narben auf Ablehnung trafen, wie Erwachsene mit Depressionen als schwächlich und ihr seelischer Schmerz als Einbildung belächelt wurden. All das war ich nicht. All das konnte nicht auf mich zutreffen. Wie konnte ich dann Borderlinerin sein?
Mit der Zeit begriff ich, dass Schnitte nicht die einzige Art von Selbstverletzung waren, dass es viele weitere gab und ich mit einigen davon sehr vertraut war. Doch nach außen verleugnete ich weiterhin meine „wahre Natur“, um im Inneren umso stärker gegen mein „selbstzerstörerisches Wesen“ anzukämpfen. Ein Kampf, den ich nicht gewinnen konnte. Ein Kampf, der mich tiefer und tiefer in den Sog aus Selbstverurteilung, Ablehnung und Verachtung zog.
Es ist tückisch. Einerseits ist Krankheitseinsicht unverzichtbar, um in einen Heilungsprozess zu kommen, andererseits: wie dazu stehen, etwas zu sein, dass die Gesellschaft offensichtlich ablehnte, mitunter als gefährlich einstufte, auf jeden Fall als „anders“. Wie eine Diagnose akzeptieren, die gemeinhin gleichgesetzt wird mit unheilbar und arbeitsunfähig – oder sogar lebensunfähig? … reduziert auf das Kürzel F60.31 (nach der WHO-Klassifizierung ICD-10 steht dieser Code für die Borderline-Persönlichkeitsstörung). Mein Leben lang hatte ich mich von meinem Umfeld gerade noch akzeptiert, aber keinesfalls geliebt gefühlt. War dies nun die Bestätigung dafür, dass ich etwas war, das man nicht lieben konnte? Die Diagnose anzunehmen öffnete gleichzeitig das Tor in den nächsten Level der Selbstverachtung.
In all den Jahren hatte ich mich selbst verletzt und auch die Menschen in meinem Umfeld. Hatte jene im Stich gelassen, für die ich da sein hätte müssen. Konnte nicht sein, was andere gebraucht hätten, um durch mich Halt zu finden. Zu erkennen, dass ich dafür verantwortlich war, dass ich es hätte ändern können, hätte ich früher etwas gegen meine „Krankheit“ unternommen … gefährliche Gedanken und gleichzeitig wichtige Gedanken. Für mich galt es zu akzeptieren und zu verzeihen – am meisten mir selbst. Was geschehen war, war geschehen. In meiner Kindheit und später. Nichts davon ließ sich mehr ändern, weder durch meinen Schmerz noch durch irgendetwas anderes. Mein Leiden war also absolut sinnlos. Mein Leben sollte es nicht mehr sein. Ich war nicht bereit mich selbst aufzugeben. Ich änderte meinen Kurs. Kein Kampf mehr gegen mich selbst. Keine Selbstdemontage. Kein gedankliches und emotionales Verweilen in der Vergangenheit. Ich musste lernen, meinen Blick nach vorne zu richten damit die Zukunft eine andere werden konnte. Ich durfte lernen, mich als die anzunehmen, die ich bin, mit allen Facetten meiner sehr widersprüchlichen (oder vielfältigen) Persönlichkeit. Ich lernte die zu lieben, die ich bin, immer war und immer sein werde. Daraus entstand die [nicht] ganz alltägliche Liebesgeschichte eines Dämons, den keine Frau je lieben würde außer der Einen, die für ihn bestimmt war – so wie ich für mich selbst bestimmt war.
Romantik als Weg der Selbstfindung? Warum nicht. Weiterhin gegen mich selbst zu kämpfen und in Selbstablehnung zu verharren hätte mich unweigerlich ruiniert. Also schrieb ich die Geschichte einer nahezu unmöglichen Liebe und erlebte sie in mir selbst. Aus Furcht wurde Vertrauen, aus Ablehnung Selbstliebe, aus Dunkelheit Lebensfreude.
Wenn ich mir diese Zeilen durchlese, drängt sich unweigerlich folgender Gedanke für mich auf: das wird mir niemand glauben, das klingt so einfach. Das ist es nicht, ganz und gar nicht. Ich behaupte weder, dass es einfach ist oder gar leicht, aber es ist möglich. Das ist die Botschaft: es ist möglich, das wiederzufinden, was verloren ging … Liebe, Vertrauen, Geborgenheit. Es ist möglich, Anerkennung wieder wahrnehmen und annehmen zu lernen, zurückzukehren in die Umarmung des Lebens.