Vor wenigen Tagen erfuhr ich, das mein Expartner, der seit unserer Trennung (die von ihm ausging) jeglichen Kontakt zu mir ablehnt, einen schweren Unfall hatte und seither mit einigen Einschränkungen lebt.
Mein erster Gedanke war, bei ihm vorbeizuschauen und nachzufragen, ob er was braucht und ich helfen kann. Immerhin waren wir fast 25 Jahre liiert und auch wenn wir seit 1,5 Jahren getrennte Wege gehen, helfe ich wenn es nötig ist.
Im nächsten Schritt erzählte ich meinem Sohn von meinem Vorhaben, der entsetzt reagierte. Ob ich vergessen hätte, dass ich von einem Tag auf den anderen auf der Straße (bzw. auf dem Sofa meines Sohnes) gelandet bin? Ob ich ernsthaft alles ausblende, was damals geschehen ist? Gute Argumente.
Also setzte ich mich in Ruhe hin und fühlte ich mich hinein.
Nein, ich hatte nichts vergessen oder ausgeblendet. Die Ereignisse rund um die Trennung waren mir bewusst.
Was mein Sohn (und vermutlich einige andere auch) nicht verstehen kann: Ich sehe meinen Expartner nicht als Täter. Die Trennung traf mich damals wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Extreme Emotionen, allerdings nicht auf meiner Seite (der Borderlinerin, wo man sie erwartet hätte), sondern auf seiner. Über Jahre und Jahrzehnte Unterdrücktes und Aufgestautes (auch aus einer Zeit vor mir) brach explosionsartig in aggressiver Form an die Oberfläche.
Es wäre ein leichtes, die Schuld bzw. Verantwortung für all das meinem Expartner zu übertragen und ihn damit in die Täterrolle zu schieben. Doch so einfach ist es nicht – für mich. In dem Augenblick, in dem ich meinen Ex zum Täter mache, erkläre ich mich selbst zum Opfer. Hilflos. Machtlos. Ausgeliefert. Das war ich nicht.
Ich konnte mir selbst helfen bzw. mir Hilfe von anderen holen.
Ich hatte ich Macht, eine Entscheidung für mein Leben zu treffen und sie umzusetzen.
Ich ging auf meinen eigenen Beinen durch eine Tür hinaus und durch eine andere in mein neues Leben hinein.
Ich war kein Opfer. Ich bin kein Opfer.
Der Logik folgend war und ist mein Expartner kein Täter.
Wir lebten lange Zeit eine Beziehungsdynamik, die ich heute als toxisch bezeichne. Doch bis kurz vor dem Aus stimmte ich (bewusst oder unbewusst) dieser Dynamik zu und blieb, obwohl ich weder hilflos noch machtlos oder ausgeliefert war.
Wenn ich meine eigenen Gedankengänge aus der Metaposition heraus betrachte, erkenne ich den geistigen Einfluss von Viktor Frankl. Insbesondere dieses Zitat von ihm spiegelt sich in meinen Überlegungen wider:
„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“
Wenn ich mich entscheide, in meinem Expartner keinen Täter oder Feind zu sehen, geschieht dies aus meiner menschlichen Freiheit in der Wahl der Einstellung. Ebenso wie ich mich entscheide, mir selbst eine starke Rolle zu geben. Gewiss, manches hätte ich früher erkennen können, andere Handlungen setzen usw. Nun, wir alle machen Fehler, und aus einigen lernen wir hoffentlich auch. Aber ich war kein hilfloses, machtloses, ausgeliefertes Opfer.
Für mich ist es sehr wichtig, die Täter-Opfer-Dynamik aus den Ereignissen herauszunehmen, um ein starkes Fundament für das zu schaffen, das darauf aufbaut: mein aktuelles Leben.
Ziemlich sicher beeinflusst hier Bert Hellinger mit seinem Buch „Anerkennen was ist: Gespräche über Verstrickungen und Lösungen“ meine Denkansätze.
Ein wenig provokant formuliert meine Essenz in Bezug auf die Trennung: „Wer sich ewiglich in der Opferrolle suhlt, bleibt ebenso lange an den Täter gebunden. Freiheit beginnt mit dem Loslassen (der Opfer-/Täterrollen)“.
Das Ganze hat für mich auch nichts mit positivem Denken, Vergebung oder ähnlichem zu tun. Es geht schlichtweg um ein pragmatisches: Es ist, was es ist.
Das Leben kann schwarz/weiß betrachtet werden, oder bunt – alles eine Freiheit der Einstellung.
Möglicherweise bereiten diese Zeilen manchen Menschen nachdenkliche Stunden.
Verstrickungen sind tückische Fallstricke. Lösungen erfordern mitunter ein Loslösen von alten Denkmustern.
Ich war (noch) nicht bei meinem Expartner. Mein Bauchgefühl ist noch unschlüssig in Bezug auf den richtigen Zeitpunkt. Meine Einstellung dazu habe jedoch ich gefunden.
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