Viele meiner Beiträge entstehen einfach so, völlig ungeplant, direkt aus dem Alltag heraus. Wie dieser hier im Zuge einer Konversation. Nach einer Schilderung von diversen Wahrnehmungen, folgte die Frage an mich in der Art von: „Ist das auch Borderline?“
Ich überlegte kurz, und schrieb eine Antwort, die wesentlich umfangreicher ausfiel als ich selbst erwartet hatte. Sie enthält auch einige Gedankengänge, die vielleicht auch für andere interessant sein können. Deshalb hier nun in voller Länge:
Eines vorweg: ich werde keine Einschätzung darüber abgeben, ob jemand Borderliner ist oder nicht. Für mich selbst habe ich nach rund 30 Jahren Feldforschung (an mir selbst) und durch viele Gesprächen mit Experten Klarheit bekommen.
Zur Frage: auf der Liste der Symptome von Borderline findet sich auch mangelndes Identitätsgefühl, d.h. nicht zu wissen wer man ist bzw. sich an die Erwartungen des Umfeldes anzupassen bzw. davon stark bestimmt zu werden.
Ich habe schon so einige Gespräche mit Therapeuten und Psychologen (ich kenne viele aus meinem beruflichen Kontext) über das Thema Borderline geführt. Die meisten sehen in einer Diagnose nur eine Momentaufnahme, die sich jederzeit verändern kann und wird. Auch die Testverfahren wie ICD-10 und DSM-5 sind nur Hilfsmittel. Tendenziell waren meine Gesprächspartner eher zurückhaltend mit Diagnosen, weil diese automatisch auch eine Zuschreibung sind. Von zahlreichen Studien ist bekannt, dass Zuschreibungen das Verhalten von Menschen stark beeinflussen. Es gab z.B. einen Versuch mit Studenten, die Mathe-Aufgaben lösen sollten. Einer Gruppe wurde im Vorfeld erklärt, dass man nicht erwarte, dass Frauen gleich gut wie Männer abschneiden würden, weil Frauen ja schlechter in Mathe sind (Zuschreibung!) und das Ergebnis war dann auch entsprechend der Zuschreibung. Die andere Gruppe wurde neutral informiert und hatte gleichwertige Ergebnisse bei Männern und Frauen. Oder das Experiment mit der Schulklasse, deren Ergebnisse jeweils davon abhingen, ob dem Lehrer im Vorfeld gesagt wurde, dass die Klasse überdurchschnittlich gut oder unterdurchschnittlich schlecht sei.
Zuschreibungen beeinflussen uns subtil und lösen aus dem Unterbewusstsein heraus Verhaltensänderungen aus. Die Diagnose Borderline ist nicht anders. Das Risiko ist groß, aufgrund der Diagnose bei sich selbst Symptome bewusster und stärker wahrzunehmen, als sie es vor der Diagnose waren, weil der Fokus ein anderer wird. Wer sich gerade ein neues Auto Marke X gekauft hat, sieht meistens genau dieses Modell vermehrt im Straßenverkehr, weil der Fokus sich geändert hat.
Aus meiner Sicht sind die meisten Herausforderungen, mit denen „Borderliner“ zu tun haben, thematisch die gleichen wie bei Nicht-Borderlinern, allerdings unterscheiden sie sich deutlich in der Intensität der Emotionen. Mangelndes Selbstwertgefühl z.B. findet man weit verbreitet, aber nicht jeder entwickelt ein Borderline. Traumatisierungen und geringe Resilienz spielen da wesentlich mit.
Als Kommunikationstrainerin und Coach habe ich jahrelang mit Menschen gearbeitet, die keine Borderliner waren. Ihre Themen waren dieselben wie meine. Ich schätze, genau deshalb konnte ich damit auch so gut umgehen (bei den anderen).
Wenn du mich also fragst, was Borderline ist, dann sage ich: eine Persönlichkeit, die nicht innerhalb der 08/15-Parameter angesiedelt werden kann und daher außerhalb gestellt (oder als krank/gestört) eingestuft wird. Mit dieser Zuschreibung wird dann auch gleich ein Weg vorgezeichnet. Oder man entscheidet sich, selbst herauszufinden, wer man ist und was „Borderline“ für einen persönlich bedeutet und wie man damit gut durchs Leben kommt. Natürlich kann letzteres jahrelange Arbeit bedeuten, aber den Weg der Selbstfindung gehen alle Menschen im Laufe ihres Lebens, manche geplant und diszipliniert, andere zufällig und konfus.
Noch ein Tipp, den ich gerne früher in Mentalworkshops gegeben habe: Ein Problem wird stets größer und mächtiger, je öfter ich es als Probleme benenne. Eine Herausforderung kann dagegen reizvoll sein. In einem Potenzial schlummern unendlich viele Möglichkeiten, die es zu entdecken gilt.
In diesem Sinne: schreib dein Schicksal – oder besser: deine Geschichte – doch selbst!