Ein „banales“ Ereignis der vergangenen Woche: Ich fahre mit dem Auto morgens Richtung Wien und Job, als es im Radio „Großvater“ von STS spielt. Ein uralter Song, mit dem ich quasi großgewordenen bin, den ich unzählige Male gehört habe, aber seit meiner „Wiedergeburt“ (oder ultimativen Entscheidung, mich selbst voll und ganz anzunehmen) im Jahr 2017, löst dieser Song (und ein paar andere) etwas in mir aus, was er nie zuvor hat: Tränen!
Einen Großvater wie im Song beschrieben, hatte ich nie. Insofern triggert der Sohn per se keine Erinnerungen, doch die intensive Emotionalität erfasst mich wie eine Welle und reißt mich mit. Ein absolut unpassender Zeitpunkt dafür, weshalb ich mich mit starrem Blick darum bemühe, mit jedem Atemzug die Emotionen in mir weiter runterzuschrauben. Berührbarkeit in dieser Form kann ich in meinem Job nicht gebrauchen. Sie würde mich schlichtweg entscheidungs- und handlungsunfähig machen. Ein Teil in mir wehrt sich gegen dieses „Abschalten“ meiner Emotionalität, weil es sich wie das Zwängen in ein viel zu enges Korsett anfühlt, dennoch ist es notwendig.
Grenzenlos emotional – Fluch und Segen zugleich
Jahrzehnte hatte ich meine Emotionalität abgelehnt, tief in mir verborgen, mir nur im dunklen Kinosaal ab und an erlaubt, sie auszuleben, wenn niemand meine Tränen sehen konnte. Es kostete mich unglaublich viel Kraft, diese Unterdrückung in mir aufrecht zu erhalten – und allzu öfter entlud sich der aufgestaute Druck in zerstörerischer Weise.
Typisch Borderline?
Mag sein.
Früher geschah diese Unterdrückung aus Unwissenheit und Angst. Heute vollziehe ich das „Abschalten“ bewusst aus der Notwendigkeit heraus, meinen Job ausüben zu können, der dies erforderlich macht. Schließlich muss auch ich Rechnungen bezahlen. Gewiss, ich könnte mir einen anderen Job suchen, der ohne Abschalten möglich ist, aber ich bin nun einmal ziemlich gut in dem, was ich tue. Manchmal denke ich, dass genau dieses Runterfahren der Emotionalität für meinen Erfolg verantwortlich ist – weil ich auch im ärgsten Stress einen klaren Kopf bewahren und rationale Entscheidungen treffen kann. Aber um welchen Preis?
Selbstbeschränkung auf Zeit.
Solange ich ausreichend Freiraum habe, ich selbst zu sein, funktioniert das recht gut. Schwierig wird es, wenn die Beschränkungszeiten zu lange andauern. Irgendwann stecke ich dann im Modus gedämpfter Emotionalität fest und komme dort nur mit ein wenig „Starthilfe“ wieder aus. Also mit etwas, das meine Gefühlsleben wieder pusht. Auch das ist mir mittlerweile bewusst und lebbar.
Dennoch bleibt bei all dem ein bitterer Beigeschmack: Je nach Bedarf knipste ich meine emotionale Seite aus oder an. Manchmal denke ich dabei an eine Filmszene aus „Star Trek: First Contact“, als der Androide Data mit einer Kopfbewegung seinen Emotionschip deaktiviert, um angesichts der Bedrohung durch das Borg-Kollektiv ungestört funktionieren zu können. Irgendwie habe ich das Gefühl, genau dasselbe zu machen. Was für mich lebensphilosophischen Frage aufwirft: Gehört es zum Menschsein dazu, sich hin und wieder emotional auszuschalten? Oder entwickelt sich diese Form des Menschseins in Richtung Maschine? Ist eine Gesellschaft noch gesund, die Arbeitsbereiche entwickelt hat, in denen Gefühle (und damit verbunden Berührbarkeit) stören?
Vor meinem zweiten Burnout beschäftigte mich die Frage, was einen Frontsoldaten auf Heimaturlaub dazu bringt, wieder an die Front zurückzukehren? Eine sehr plakative Metapher. Zurück in die innere Unterdrückung der eigenen Emotionen, um weiter „arbeitsfähig“ zu bleiben. Damals entzog ich mich auf drastische Weise der Beantwortung der Frage bzw. der Auflösung meines inneren Konfliktes. Heute bewege ich mich (leider) regelmäßig an der Grenze der Überlastung, jongliere ein hochexplosives Potenzial durch einen mit Herausforderungen gespickten Arbeitsalltag. Auf der einen Seite würde ich gerne dauerhaft vollständig ICH sein, ohne meine Emotionen aus- und anzuschalten. Auf der anderen Seite übt mein Job auch eine nicht zu leugnende Faszination auf mich aus. Den Reiz, das hinzubekommen, woran andere sich die Zähne ausbeißen. Das scheinbar unmögliche möglich zu machen. Mein Kick … und auf das Adrenalin-High folgt unausweichlich Frustration, über den Preis (Selbstbeschränkung), den ich dafür zu entrichten habe.
Süchtig nach dem Kick?
Dieser Vergleich drängt sich auf. Warum sonst nehme ich in Kauf, etwas zu tun, das mir dauerhaft nicht guttut, aber sich für kurze Zeit ungemein lebendig anfühlt, bevor es dann zur Belastung wird.
Schwarz-weiß. Das Pendeln zwischen den Extremen. Einst ein Fluch, heute ein überwiegend bewusstes „Spiel“ für mich… und mit Sicherheit eine Gratwanderung, ein Absturz jederzeit möglich, das Wissen um die Zusammenhänge und Achtsamkeit meine Sicherungsleinen.
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