TESTE DICH SCHNELL MAL

Selbsttest sind ziemlich populär – leider nicht nur in Bezug auf das C-Virus. Und – wie mir in einigen Gespräche der vergangenen Woche aufgefallen ist – auch Eigendiagnosen bzw. das Diagnostizieren anderer. Selbstredend bezieht sich meine Einleitung nicht auf medizinisches Personal, sondern Menschen gänzlicher anderer Professionen. Eine wunderbare Gelegenheit, um neuerlich auf folgendes hinzuweisen:

Finger weg von Borderline-Schnelltests, derer es so einige im World Wi(l)d Web gibt.

Ich halte sie allesamt für den falschen Weg.

Warum?

Ganz einfach. Wer sich die Mühe macht, ein wenig zum Thema Borderline zu recherchieren, wird dabei u.a. auf DSM-5 treffen.

DSM-5 ist das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) im Kapitel Persönlichkeitsstörungen verzeichnet (wo auch sonst?). Sehr vereinfacht gesagt, listet es 9 typische Symptome auf, von denen 5 erfüllt sein müssen, um von einer BPS ausgehen zu können.

Mittlerweile gibt es auch ein DSM-5 Alternativ-Modell mit Unterkategorien, die 2 von 4 bzw. 4 von 7 Treffer für eine Diagnose heranziehen.

„Ritzen“ oder „Schneiden“ wird in keinem der Modelle explizit genannt. Lediglich der Begriff „Selbstverletzung“ wird genannt. Selbstverletzung kann vieles sein. Abgesehen davon …

… wer sich die Listen aufmerksam durchliest, wird vielleicht ebenso wie ich zu der Erkenntnis gelangen, dass sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit jeder Mensch im Laufe seines Lebens mindestens einmal in einer Phase befinden wird, in der „5 aus 9“ zutreffen. Sind deshalb alle Borderliner? Nein, denn es handelt sich um eine Momentaufnahme. Um verantwortungsvoll eine Diagnose treffen zu können, braucht es mehr als das.

Meine eigene Diagnose erhielt ich Mitte Vierzig, aber nicht, weil ich plötzlich „erkrankt“ war, sondern weil ich mein zweites Burnout hinter mir hatte. Im Zuge der therapeutischen Arbeit blickten wir auf mein Leben zurück. Dabei zeigten sich wiederkehrende Muster, sowohl in Handlungen als auch in meiner Gefühlswelt. Nachdem ich damals bereit war, erstmals offen über das zu sprechen, was ich zuvor stets unter dem Teppich belassen hatte, nämlich wie ich wirklich fühle und was ich wahrnehme, ergab sich nach einigen Monaten intensiver Reflexion ein eindeutiges Bild bzw. eine Diagnose.

Dankenswerterweise hatte ich einen Therapeuten, dem es wichtiger wahr, mich dabei zu unterstützen, mit meinem Leben gut zurecht zu kommen, als eine Diagnose zu formulieren. Vielleicht hätte er dies bereits Jahre davor tun können, z.B. nach meinem ersten Burnout (da war ich noch nicht bei ihm in Therapie). Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Diagnose damals mit Vehemenz abgelehnt hätte, war ich doch davon überzeugt, die anderen hätte mich in den Zusammenbruch getrieben durch die Ausbeutung meiner Gutmütigkeit, durch zu hoch gesteckte Ziele, durch dies und das und was auch immer … ich lebte damals in der Opferrolle. Wie hätte ich da annehmen können, „anders“ zu sein – obwohl ich innerlich immer spürte, „anders“ zu sein.

Verleugnen, verdrängen, ver-rücken … ein nettes Wortspiel. Die Realität oder das, was man davon wahrnimmt, wird so lange „ver-rückt“, bis sie dem entspricht, was man akzeptieren kann. Ver-rückt man zu lange, besteht die Gefahr, eines Tages „verrückt“ zu werden und zu bleiben, nicht mehr in die allgemeingültige Realität zurückzufinden. Dieser spannende Gedankengang wurde mir einst von meiner geschätzten Lucy vermittelt, findet sich aber auch in diverser Literatur zu Psychosomatik und Psychologie.

Heute bin ich dankbar, dass die Diagnose erst zu einem Zeitpunkt ausgesprochen wurde, als ich sie auch annehmen und damit umgehen konnte. Interessanterweise hätte ich mich selbst davor nie als Borderlinerin gesehen. Ich doch nicht! Ich ritze mich nicht, wie kann ich da Borderlinerin sein? Wie so manch andere, reduzierte ich das Thema auf einen Aspekt von vielen, übersah die Zusammenhänge, das große Ganze, meinen eigenen blinden Fleck …

Eine Borderline-Diagnose ist kein eingewachsener Zehennagel. Der ist zwar unangenehm, aber diese Diagnose kein man auch als Laie recht einfach stellen bzw. eindeutig spüren. Borderline ist diffus, komplex und veränderlich. „Normale“ Phasen lösen sich mit Episoden ab. Wer in einer Krise seines Lebens einen Selbsttest vornimmt, kann eine Weiche auf ein falsches Gleis legen, von dem er oder sie dann nicht mehr loskommt. Deshalb …

Finger weg von Selbsttests!

Die Thematik ist derart umfangreich, dass man sie kaum überblicken kann. Es gibt sogar Studien aus Asien, die Selbstverletzendes Verhalten (SVV) nicht in Zusammenhang mit BPS sehen, sondern zwei getrennte Störungen.

Ich stehe heute auf diesem Standpunkt:

Ganz egal, welches Etikett das „Problem“ bekommt, es existiert in mir, verursacht Stress und ein Ungleichgewicht in meinem Leben, und deshalb ist es meine Verantwortung, einen Weg zu finden, die Balance wiederherzustellen. Punkt.

Und nochmal …

Finger weg von Selbsttests!

Ersatzweise empfehle ich 3x täglich die Frage: Heute schon gelächelt? Lächeln ist gesund … auch das findet man im World Wi(l)d Web 😊

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