Ab und an lasse auch ich mal gehörig Dampf ab. Bevorzugt dann, wenn eine Kette von Ereignissen dazu geführt habe, dass ich mir etwas in der Art von „geht’s noch?“ denke.
Psychohygiene heißt für mich nicht, sich hemmungslos über ein Thema oder eine Person auszulassen, bis alle (schätzungsweise) negativen Emotionen verraucht sind. Ein derartiger rhetorischer Rundumschlag mag für manche Menschen Erleichterung bringen, aber zu jenen gehöre ich nicht.
Psychohygiene bedeutet für mich, ein Thema oder eine Person bzw. deren Handlungen aus möglichst vielen Blickwinkel und unterschiedlichen Standpunkten zu betrachten, während ich gleichzeitig meine eigenen Gefühle dazu im Auge behalte. Was löst Unruhe aus? Was lehne ich ab und warum? (Daraus kann ich lernen.) Wo stimme ich zu?
Spoiler Alarm: Kein Standpunkt ist völlig richtig und keiner völlig falsch. Manche wirken auf den ersten Blick überspitzt. Bevor ein Shitstorm über mich hereinbricht: Ich nehme mir die Freiheit, meine eigene Meinung zu haben zu dem, was ich wahrnehme – ohne diese Meinung als allgemeingültige Wahrheit zu postulieren.
Wollen wir also beginnen.
Mein Thema, das mich aktuell beschäftigt: In den Borderline-Selbsthilfegruppen beobachte ich eine weitverbreitete Tendenz, sehr persönliche Probleme zu schildern. Okay, dafür diese Gruppen da, aber …
… ganz ehrlich, die Art und Weise, wie das getan wird, ist teilweise erschreckend. Von knallharten Vorwürfen bis hin zu einem hemmungslosen Ausleben der Opferrolle ist da alles dabei. Fallweise werden persönliche Chats mit anderen Personen geteilt und – ganz klassisch Opferrolle – Bestätigungen dafür eingefordert, wie unfair man doch behandelt wird. Ganz gleich, was diese Personen, die selbstredend in der SH-Gruppe nicht aktiv sind, getan oder nicht getan haben, sie werden de facto in den Schmutz gezogen. Die „Opfer“ agieren – vermutlich unbewusst – in der dreifaltigen Rolle Ankläger-Richter-Vollstrecker. Dabei wird völlig ignoriert, dass die „Opfer“ durch ihre Vorgehensweise in die Rolle der Täter gegenüber jenen, die sie selbst als Täter titulieren, schlüpfen. Lehrbuchbeispiele für die eskalierende Drama-Dynamik und eine ausufernde Schlammschlacht zerstörerischer Gedanken. Kollektives Runterziehen.
… auf der anderen Seite hat sich bei manchen Personen derart vieles aufgestaut, das auch ausgesprochen bzw. ausgeschrieben werden muss, um den Druck abzubauen und die Chance zu haben, weniger emotional und mehr rational an die Sache heranzugehen. Auf Dauer runterschlucken, unterdrücken oder ignorieren macht krank – das ist erwiesen. Deshalb braucht es die Möglichkeit, diesen Müll auch irgendwo abzuladen.
… dieses Müllabladen geschieht jedoch an einem Ort, an dem kaum jemand ausgebildet ist, damit umzugehen. Therapeut*innen steht die Möglichkeit von Supervision zur Verfügung, um die Gedanken, Emotionen und Energien, die sie in der therapeutischen Arbeit von ihren Klienten auf- und übernehmen, zu reflektieren und aufzulösen, denn sonst würden auch sie irgendwann daran Schaden nehmen. Freiwillige Mitglieder einer SH-Gruppe haben diese Möglichkeit zumeist nicht, und ich zweifle daran, ob vielen von ihnen überhaupt bewusst ist, was sie alles auf- und übernehmen, wenn sie dem „Psychoschrott“, der dort gepostet wird, unreflektiert mitlesen und diskutieren.
… bei manchen Ratschlägen, die erteilt werden, krampft es mich regelrecht zusammen. Ich setze dabei stets ein „gut gemeint“ voraus, doch welchen Nutzen hat jemand davon, in der Opferrolle bestätigt zu werden? Oder sich auf „Nebenschauplätzen“ halbherzige Versuche zu unternehmen, anstatt sich dem Kern des Ganzen zuzuwenden?
… manchmal habe ich den Eindruck, es geht nur darum, gemeinsam im Rudel zu jammern und wer am lautesten (oder am verstörendsten) sein Desaster schildert, bekommt am meisten Zuwendung aus der Gruppe.
… ich sehe aber auch jede Menge Menschen, die mit dem, was sie quasi „fernsteuert“ nicht klarkommen, kaum verwertbare Informationen dazu haben und wenn, dann nicht jene, die sie weiterbringen. Ich sehe Suchende, die so sehr auf das Problem starren und auf die Suche fixiert sind, dass sie Lösungsmöglichkeiten nicht erkennen können, die sich ihnen bieten. Ich sehe Menschen, die nicht daran glauben, dass auch ihr Leben besser werden könnte und es für sie einen Weg gibt, zurück zu Selbstliebe und Lebensfreude, zurück in die Umarmung des Lebens. Ich sehe mich selbst, wie ich einst war, wie ich gehandelt habe vor vielen Jahren, und ich erinnere mich, dass es damals Menschen gab, die an mich glaubten, obwohl ich es selbst nicht tat.
Und obgleich ich mir schon mehrfach vorgenommen habe, aus diesen Gruppen auszusteigen, schreibe ich dann doch wieder einen Kommentar – in der Hoffnung, einen Samen zu säen, aus dem heraus ein Pflänzchen namens „Hoffnung“ keimen wird, das vielleicht ein Blatt „Zuversicht“ tragen wird und eines schönes Tages eine Blüte „Selbstliebe“.
Nachdem ich alle (auch hier aus Platzgründen nicht genannten) Blickwinkel eingenommen habe, nachdem sich alle Teile zu einem Gesamtbild zusammengefügt habe, finde ich meinen Standpunkt. Dieser beinhaltet stets unterschiedliche Sichtweisen und Gedanken, doch letztendlich – unter dem Strich – kommt eines heraus:
Es ist, wie es ist – und es passt, wie es ist.
Ich bin frei, zu entscheiden, was ich denke oder tue, denn ich trage die Verantwortung für mein Leben. Fühle ich mich genervt – so ist das meine eigene Entscheidung, mich von dem, was ich wahrnehme, genervt zu fühlen. Weder sind dafür andere noch deren Handlungen verantwortlich und ich werde ihnen diese Verantwortung (und damit die Schuld) nicht aufbürden. Wenn mir nicht gefällt, was ich lese, kann ich jederzeit aussteigen. Wenn ich mich entscheide zu bleiben, akzeptiere ich die Risiken, die damit einhergehen und übernehme wiederum die Verantwortung, mich selbst um mein Wohlergehen zu kümmern.
Auch wenn ich es gerne wäre, ich bin nicht immun, gegen negative Energien, aber ich habe gelernt, auf mich selbst zu achten. Bewusst innezuhalten, wenn’s zu viel wird („geht’s noch?“ richtet sich nur scheinbar nach außen, es ist eine Frage, die ich mir auch selbst stelle, im Sinne von „kann ich noch gut damit umgehen?“).
Meine Psychohygiene ist – wie vieles in meinem Leben – [nicht] ganz alltäglich oder anders formuliert: sehr individuell. Meine Runde durch die unterschiedlichen Standpunkte drehe ich häufig während eines Waldlaufs, ohne einem anderen davon zu erzählen. Heute mache ich hier eine Ausnahme, um eine weitere Facette meines Lebens mit Borderline aufzuzeigen: Das Potenzial von Widersprüchlichkeit konstruktiv zu nutzen, um ein möglichst umfassendes Bild einer Situation zu entwickeln.
Denn von einem bin ich felsenfest überzeugt: alles auf unserem Lebensweg ist dazu da, um uns weiterzubringen – auch Psychohygiene.
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