Mein sonntäglicher Spaziergang durch einen herbstlichen Wald mit wolkenverhangenem Himmel im November. Die perfekte Gelegenheit für tiefgründige Gespräche in der Art von: SIE (Borderlinerin, also ich) und ER (Nicht-Borderliner, mein Partner) versuchen aus ihren jeweiligen Welten heraus, den anderen zu verstehen. Genauer gesagt: ER versucht SIE zu verstehen. Dieses Bestreben kann schon in einer „durchschnittlichen“ Beziehung eine Herausforderung darstellen. In unserem speziellen Setting ist es das mit Sicherheit, vor allem wenn mein Interesse, die Vergangenheit noch weiter ins Detail zu zerlegen und zu analysieren eher als schwindend betrachtet werden kann.
Also schlage ich nach einiger Zeit eine thematische Richtungsänderung ein. Weg von der weit zurück liegenden Vergangenheit hin zur Gegenwart bzw. kurzfristigen Vergangenheit. In der Tat beschäftigen mich noch immer einige Ereignisse der vergangenen Woche.
Ich hatte einige Rückmeldungen zu mir als Person bekommen. Insbesondere eine von zwei Menschen, die mich seit 2017 jeweils nur 3-4x innerhalb weniger Wochen, und dann für den Rest des Jahres nicht mehr sehen. Diese beiden haben mich quasi vor JAN/A, während der Veröffentlichung der Erstfassung und eben jetzt kurz nach der Neuauflage erlebt. Beide sind es von ihrem Beruf her gewohnt, genau zu beobachten und rück zumelden. Insofern war ihr übereinstimmendes Feedback an mich, dass ich mich seit 2017 sowohl in meiner Art als auch meiner äußeren Erscheinung und Ausstrahlung sehr positiv verändert habe, für mich ein deutliches Zeichen, dass sich bei mir mehr geändert hatte, als ich bislang annahm.
Meine diesbezüglichen Anmerkungen verhallen im nebeligen Dunst zwischen den Bäumen. ER versucht nach wie vor zu verstehen, wie mein Borderline entstand mit der implizierten Fragestellung: wie kann es gelöst – im Sinne von geheilt – werden? Hier gehen unsere beiden Meinungen deutlich auseinander. Aus meiner Sicht bildet meine „grenzenlose Emotionalität“ den innersten Kern meines Borderline, um den sich spätere Ereignisse gelegt und somit das „Syndrom“ geformt haben. Diese nur schwer zu zähmende Emotionalität ist die treibende Kraft meiner Kreativität und somit keinesfalls zu „behandeln“ oder zu „heilen“. Mein Bestreben ist ein Leben in Balance, was mir inzwischen über weite Strecken sehr zufriedenstellend gelingt.
Deshalb fokussiere ich mich in der Diskussion erneut auf den Aspekt, WIE mir Teile meiner eigenen Veränderung derart „entgehen“ konnten. Die Rückmeldung aus dem Umfeld war nämlich die Antwort auf die zweite der zirkulären Fragen. Diese werden gerne im Rahmen eines Coachings oder einer Intervention gestellt. Sinngemäß: wenn dies hier gut gelungen ist, woran (1) wirst du erkennen, dass sich etwas verändert hat? Woran (2) wird dein Umfeld erkennen, dass sich etwas verändert hat? Woran (3) wirst du erkennen, dass dein Umfeld erkannt hat, dass sich etwas verändert hat? Woran (4) wird dein Umfeld erkennen, dass du erkannt hast, dass dein Umfeld erkannt hat … das kann man beliebig ausdehnen. Wichtiger als die Fragen an sich ist für mich, dass mein Umfeld offenbar einiges vor mir erkannt hat.
Natürlich interessiert IHN dies wiederum weniger, weil ja weit weg von seinem Kernthema „Heilung“.
Dennoch, ich schlage wieder einen Haken zu meinen eigenen Interessen. Meine „Heilarbeit“ ist gelungen. JAN/A hat als Reframing für mein Borderline funktioniert. Die Rückmeldungen aus dem Umfeld betrachtend: meisterlich funktioniert.
Mehr noch: Ich habe meinem „Dämon“ derart viele liebenswerte Facetten hinzugefügt (keine davon frei erfunden, allesamt nur in mir wiedergefunden), dass ich keine Minute mehr ohne dieses feurige Fünkchen sein möchte. Meine grenzenlose Emotionalität lebe ich hemmungslos beim Schreiben von Gedichten und Geschichten aus. Mein Leben funktioniert in allen Bereichen, privat und beruflich. Heilung? Was ist das? Eine Bestandsaufnahme im Augenblick – so wie eine Diagnose?
Wie viel mehr kann ich erreichen als ein Leben im Einvernehmen mit mir selbst und meinem Umfeld? Wie viel mehr an Zufriedenheit möchte ich erreichen? Aus meiner Sicht gibt es für Zufriedenheit keine Steigerung, und Glück ist für mich unabhängig von äußeren Faktoren. Bin ich also am Ende meiner Suche angekommen?
Gedacht: Ja
Gefühlt: Ja
Geplant: (um ehrlich zu sein) eher ein glücklicher Zufall
Sollte mir tatsächlich gelungen sein, wonach so viele streben? Noch dazu derart unspektakulär? Oder sprechen viele einfach nicht darüber, obwohl sie es längst ebenfalls erreicht haben? Aber vielleicht erkennen manche die eigene Veränderung auch nicht (so wie ich auch) in vollem Umfang, weil sie gar zu unrealistisch erscheint? Vielleicht ist es auch un-modern geworden, mit sich selbst und seinem Leben zufrieden zu sein, weil man ja eventuell noch mehr (wovon eigentlich) erreichen könnte?
Was soll’s, ich bin gerne altmodisch zufrieden und glücklich😉
Hier noch ein sentimentaler Nachsatz: ich wünschte, ich könnte dir sagen „mach einfach, was ich gemacht habe, und dein Problem löst sich.“ Das wäre gelogen. Mein Weg ist keine allgemein gültige Kopiervorlage, maximal eine kreative Quelle der Inspiration. Nichts desto trotz – ich bin absolut davon überzeugt, dass es für jeden von uns einen individuellen Weg für ein glückliches und zufriedenes Leben gibt. Und ich wäre unendlich dankbar, wenn meine Worten und Geschichten einen Hauch dazu beitragen, dich zu bestärken, deinen Weg zu finden und zu gehen.