ES IST, WAS ES IST … ABER WAS IST ES?

Im Hollywood-Film „Avatar“ begrüßen sich die Bewohner einer außerirdischen Welt mit den Worten „Ich sehe dich“. Damit wir mehr als die rein visuelle Wahrnehmung gemeint. Die Bedeutung dieser drei Worte geht viel tiefer, denn sie unterscheidet Beobachtung von Interpretation … und trifft damit den Nagel auf den Kopf, wenn man auf zwischenmenschliche Probleme in der realen Welt blickt.

Seit mehr als einem Jahr bewege ich mich in diversen Borderline-Selbsthilfegruppen. Unzählige Male las ich Beiträge, in denen sowohl von Betroffenen als auch Angehörigen sehr umfassend das Verhalten anderer interpretiert wird, inklusive der Schilderung über die zugrunde liegenden Motive. Manche habe ich den Eindruck, sehr viele Telepathen, Gedankenleser und Wahrsager bewegen sich heute über diesen Planeten, welche die Frage nach dem „Warum tust du das?“ beantworten können ohne je die Frage an die betreffende Person gestellt zu haben. Aus meiner Sicht ist das fatal, denn es erfolgt eine Meinungsbildung aufgrund von … was eigentlich? Interpretationen? Mutmaßungen? Annahmen? Allesamt entsprungen den eigenen Erfahrungswerten und damit letztendlich nichts anders als ein Spiegelbild jener, die interpretieren. Oder werten. Bewerten.

Interpretation ist im Grunde einfach. Beobachtung, ohne zu werten dagegen stellt eine Herausforderung dar, denn wir müssen uns selbst dafür ein Stück weit zurücknehmen. Das Handlungsmotiv eines anderen können wir nicht kennen, außer die Person verrät es uns. Wir können die Handlung an sich wahrnehmen, einen Teil der zeitnahen Auswirkungen, doch viel mehr ist nicht drin. Für mehr sind wir auf Fragen angewiesen, auf Kommunikation und damit Informationsaustausch.

Es ist, was es ist … spielen wir ein Gedankenspiel. Während ich diese Zeilen über Beobachtung und Interpretation tippe, sitze ich in meinem Wohnzimmer auf einem alten Lehnstuhl aus Rattan. Mein Laptop ruht auf einem dicken Buch auf meinen Beinen. Ich trage mein Gamer-Headset, höre Musik von Enya und über den oberen Bildschirmrand blicke ich auf meine hellgrauen Socken. Alles das könnten Besucher wahrnehmen, aber welche Interpretationen leiten sie daraus ab? Beantwortet irgendetwas davon die Frage nach dem Motiv meiner Handlungen? Warum sitze ich auf diesem alten Stuhl oder höre genau diese Musik? Warum schreibe ich einen Beitrag über dieses Thema? Weil mir gerade nichts anderes einfällt? Oder weil ich vor kurzem interessante Erfahrungen dazu gemacht habe? Was ist überhaupt interessant – für mich? Verarbeite ich damit noch immer das Beziehungs-Aus im Sommer? Oder reflektiere ich Ereignisse einer Kennenlern-Phase? Hat es denn mit meinem Privatleben zu tun oder mit meinem Job? Oder ist mir einfach nur langweilig?

Die erkennbare Handlung ist das Schreiben des Beitrags in der geschilderten Umgebung. Alles andere ist Spekulation bzw. Interpretation, abgeleitet aus persönlichen Erfahrungswerten.

Ich vermute, allmählich wird klarer, worauf ich hinziele. Jede Aussage im Sinn von „der andere macht das, weil …“ und „so ist er/sie nun mal“, kann meilenweit neben der Realität liegen – und doch treffen wir Aussagen dieser Art täglich – und glauben auch noch daran.

Genau dort entstehen vieler unserer zwischenmenschlichen Probleme: In der Annahme, zu wissen, was ist es, ohne zu hinterfragen. Dafür gibt es auch ein einfaches Wort: Vorurteile. Oder Vorverurteilung. Wir beurteilen (bewerten) etwas, bevor wir alle relevanten Informationen dazu haben. Auch und insbesondere Menschen. Bilden uns eine Meinung, indem wir ihre Handlungen durch unsere eigenen Erfahrungsfilter bewerten.

Ich sehe dich?

Weit daneben. Allzu oft sehen wir nur das nach Außen projizierte Spiegelbild der eigenen inneren Gedanken- und Gefühlswelt. Das zeigt sich in den Selbsthilfegruppenbeiträgen sehr deutlich. Die tiefsitzende Selbstablehnung wird dem anderen untergeschoben als ablehnendes Verhalten. Nebensächlichkeiten erhalten existenzielle Bedeutung, um die latente Erwartung von Täuschung und Betrug zu erfüllen. Über Ausgrenzung und Vorurteile wird geklagt, und zeitgleich selbiges anderen gegenüber angewandt, basierend auf Mutmaßungen und ohne deren Handlungen zu hinterfragen. Interpretationen am laufenden Band.

Doch um einen anderen tatsächlich zu sehen, bedarf es Unvoreingenommenheit.

Und wir müssen die scheinbare Kontrolle über den anderen oder die Situation aufgeben, indem wir uns eingestehen, die dahinterliegende Motivation nicht zu kennen, solange wir sie nicht erfragt haben.

Kontrolle?

Ja, genau darum geht es häufig: um Kontrolle. Oder den Verlust derselben. Sich ein Bild von einem anderen zu erschaffen verleiht eine trügerische Kontrolle über die Unberechenbarkeit des anderen Menschen. Gerade in Beziehungen und wenn wir davon ausgehen, die Motive des anderen zu kennen. Doch damit berauben wir uns der Möglichkeit, den bzw. die andere tatsächlich „zu sehen“, als die Person, die er/sie ist. Wir verschließen das Tor, durch das hindurch blickend wir die Welt des anderen entdecken und tiefergehendes Verständnis aufbauen könnten.

In diesem Sinne bedeutet „ich sehe dich“ den anderen wahrzunehmen möglichst frei von eigenen Projektionen oder Wertungen.

Das klingt nach einer Herausforderung? Das ist es auch, aber es ist möglich.

Freiheit (im Denken und Wahrnehmen) ist zwar aus meiner Sicht unser Grundrecht als Menschen, aber sie wird uns nicht geschenkt. Wir dürfen uns diese Freiheit erarbeiten, in dem wir bewusst darauf verzichten, zu (be)werten oder zu interpretieren, und damit beginnen, beobachtend wahrzunehmen, was es ist und den anderen „zu sehen“.

Meine eigenen Erfahrungen mit wertungsfreier Beobachtung haben mir eine Welt offenbart, die vielfältiger ist als je zuvor, auch in Bezug auf Menschen. Immer öfter entdecke ich dabei, was es ist … und dass es um einiges wunderbarer sein kann, als ich mir hätte vorstellen können – dank der Befreiung von Projektionen und Vorurteilen, gebe ich dem Leben und den Menschen die Chance zu sein, was sie sind.

In diesem Sinne: es ist, was es ist.

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