Du + ich = Chaos?

Zwischenmenschliche Beziehungen – ganz gleich, welcher Art – stellen für viele Borderliner eine schier unlösbare Herausforderung dar. Sie gehören zu den am häufigsten diskutieren Themen in Selbsthilfegruppen. Die Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Drang, alles und jeden von sich zu stoßen, durchleben viele von uns.

Meine persönlichen Erfahrungen sind da nicht anders. Echte, emotionale Nähe war lange Zeit schlichtweg unmöglich. Auf der anderen Seite gewährte ich nahezu grenzenlose Einblicke in mein Leben. Manchmal schien ich über keinerlei Empathie zu verfügen, ganz gleich, ob es um Krankheit oder Tod ging. Ein anderes Mal rissen mich die Emotionen meines Gegenübers, die in mir wie ein Echo nachhallten, völlig aus der Bahn.

Ausgeliefert dem Willen des anderen und gleichzeitig um Selbstbestimmung kämpfend … steuerlos auf einem Schiff unterwegs, das von einem tobenden Orkan umhergeschleudert wird … ein stachliger Kaktus, der sich nach einer Umarmung sehnt … dies sind nur einige bildhafte Vergleiche, wie ambivalent ich mich in zwischenmenschlichen Beziehungen wahrnahm. Schließlich fand ich heraus, wie ich meinen inneren Empathie-Schalter bewusst ON/OFF schalten konnte und gewann dadurch die Fähigkeit, Ordnung in das Chaos zu bringen und situationsadäquat zu agieren. Doch bevor es soweit war, entwickelte ich für mich einen „Kodex für Verhalten in zwischenmenschlichen“ Beziehungen – eine Struktur zum Anhalten. Einen Punkt aus meinem Kodex werde ich nun vorstellen:

[Beziehungstipps von einer Borderlinerin … das hat schon etwas Erheiterndes, gelten doch den Vorurteilen entsprechend von Borderline Betroffene als Beziehungsunfähig.]

Wer sich an das altbekannte Motto „Behandle den anderen so, wie du selbst behandelt werden willst“ hält, liegt grundsätzlich schon mal ganz gut. Allerdings – wenn nun jemand dazu neigt, sich selbst nicht gut zu behandeln, weil mit einigen Selbstzerstörungsmustern belastet, wird es schwierig, dieses Motto zielgerichtet umzusetzen. Es gibt eine Unzahl an schlauen Kalenderblattsprüchen, die auch gerne zitiert und mit allerlei bunten Bildchen gepostet werden, doch – so mein Eindruck – nur ganz wenige Menschen denken über diese Sprüche nach und wie sie im Alltag umgesetzt werden können. Zitiert wird locker flockig, reflektiert eher zurückhaltend. Und so werden Sprüche – oftmals auch als Affirmationen – unzählige Male wiederholt, ohne dabei je verstanden zu werden, weshalb sie schlichtweg nicht wirken. Sorry, aber diese Ernüchterung muss die Mentaltrainerin, die ich auch bin, hier mal anbringen.

Affirmationen, Mantras, Glaubenssätze … egal, welche Bezeichnung wir dafür wählen wollen, können nur dann ihr Potenzial entfalten, wenn die verwendeten Worte im Unterbewusstsein die gewünschten Bilder und Gefühle aktivieren. In Bezug auf einen Spruch wie den oben erwähnten, ist es hilfreich, sich eine Story dafür zurechtzulegen. Hier ein Beispiel:

Behandle in Beziehungen – gleich ob Freundschaft oder Partnerschaft – den anderen stets so, als wäre er/sie ein willkommener Gast in deinem Leben. Du bist nun Gastgeber auf Zeit, ob eine Stunde, Tage oder Jahre ist dabei völlig gleich. Wie behandelst du deine Gäste üblicherweise? Höflich, zuvorkommend, mit Wertschätzung …? Die Konzentration auf die Rolle der Gastgeberin half mir in der Vergangenheit dabei, meine chaotischen Emotionen in den Hintergrund zu rücken (wo sie sich in Folge auch beruhigten), aber auch so manche Ängste und Unsicherheiten zu überwinden, und in der Situation gelassen zu agieren. Ich wähle hier bewusst das Wort „agieren“, denn darum geht es meistens: agieren (bewusst und zielführend), nicht reagieren (fremdgesteuert von alten Mustern). Diesen existenziellen Unterschied werde ich bei nächster Gelegenheit näher ausführen.

Nun bist du also Gastgeber/Gastgeberin für jene Person, die zeitlich begrenzt ein Teil deines Lebens ist. Gleichzeitig bis du aber auch Gast im Leben der anderen Person. Also, wenn ich bei jemand zu Gast bin, benehme ich mich gesittet, respektiere meinen Gastgeber und bedanke mich für das, was mir angeboten bzw. mit mir geteilt wird.

Es geht bei dieser Übung nicht darum, irgendetwas zu unterdrücken oder Theater zu spielen, nicht um die Veränderung der Information, sondern um die Art und Weise, wie sie präsentiert wird. Vielleicht mag das jetzt für manche unvorstellbar klingen, aber es ist möglich, auch Kritik oder Missfallen wertschätzend zum Ausdruck zu bringen. Dafür verweise ich gerne auf die Arbeit von Marshall Rosenberg und die von ihm entwickelte „Gewaltfreie Kommunikation“. Die eigene Meinung kann immer höflich und vorwurfsfrei formuliert, und somit zumeist auch vom Gegenüber gut angenommen werden. Ohne hier die gesamte Methodik vorzustellen – die übrigens bereits Schulkindern sehr erfolgreich vermittelt werden konnte – geht es darum, vier Aspekte in Bezug auf eine Aussage anzuwenden: die eigene (und damit subjektive Beobachtung: ich sehe, erlebe, …), das daraus resultierende Gefühl sowie das folgende Bedürfnis und dieses letztendlich als Bitte zu formulieren. So wird aus einem Vorwurf in der Art von „Du kommst schon wieder nicht zurückgerufen.“ eine gewaltfreie Aussage ála „Ich konnte dich telefonisch nicht erreichen. Es kam kein Rückruf von dir. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, ob alles in Ordnung ist. Kannst du bitte nächstes Mal zurückrufen oder eine Nachricht senden?“

Zugegeben, um eine Botschaft gewaltfrei zu formulieren, braucht es einiges mehr an Worten und Überlegungen, doch das ist nur eine Frage der Übung. Was anfangs sperrig wirkt, wird rasch zur Routine – und eine echte Wohltat für zwischenmenschliche Beziehungen. Indem bewusst über die Formulierung nachgedacht wird, bekommt das zuvor steuerlose Schiff ein Ruder und kann in der aufgewühlten See der Emotionen besser den Kurs halten.

Als ich begann, diese Methode auch in Beziehungskrisen einzusetzen, begann ich mich allmählich aus der Opferrolle und dem damit verbundenen Ausgeliefertsein einer Situation herauszubewegen und lernte, gestaltend zu agieren. Meine Gäste begannen sich bei mir wohlzufühlen ebenso wie ich mich als Gast bei ihnen, denn ich konnte alles sagen, ohne verletzend zu werden. Mehr noch, ich erkannte auch, wie oft andere daran scheiterten, wertschätzend zu kommunizieren, dass es ihnen nicht anders erging als mir zuvor … und dass der Unterschied zwischen Borderline und Nicht-Borderline vielleicht kleiner ist, als angenommen wird. Vielleicht war ich doch nicht so viel anders. Mit Sicherheit war ich nicht die Einzige, die in Bezug auf das Gelingen von zwischenmenschlichen Beziehungen noch Optimierungspotenzial hatte.

Für sich selbst einen Kodex formulieren, die eigene Rolle überlegen, bewusst agieren und kommunizieren … hat mich zu dieser Formel geführt, die für mich Hirn und Herz in Balance hält :

Du + ich + ein wenig Struktur und Hirnschmalz = OK 😊

… und die fühlt sich in meinem Borderline-Alltag echt gut an.

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Bild: pixabay.com

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